Ferne Ufer
sich ein Hügel, der ausreichend abgelegen schien, um sich unbeobachtet Erleichterung zu verschaffen. Seine Gedärme, nicht an schottische Kost gewöhnt, rebellierten gegen die Feldverpflegung.
Die Heide war erfüllt von Vogelgezwitscher. Fern von dem Hufgetrappel und dem klirrenden Pferdegeschirr konnte Grey die zarten Laute des erwachenden Moors vernehmen. Hinter dem Stechginster raschelte ein kleines Tier. Die Landschaft wirkte ausgesprochen friedlich.
Als er sich aus der Haltung aufrichtete, die er - zu spät - als höchst unwürdig erkannte, blickte er geradewegs in James Frasers Gesicht.
Er stand weniger als zwei Meter von ihm entfernt, reglos wie ein Stück Wild. Der Wind strich über ihn hinweg und die Strahlen der aufgehenden Sonne verfingen sich in seinem Haar.
Wie erstarrt sahen sich die beiden Männer an. Für einen Augenblick hörte man nur den Wind und den Gesang der Feldlerche. Grey straffte die Schultern und schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
»Ich fürchte, Sie treffen mich in einem ungünstigen Augenblick
an, Mr. Fraser«, sagte er kühl und knöpfte sich so beherrscht wie möglich die Hose zu.
Nur die Augen des Schotten bewegten sich. Sie musterten den Major von Kopf bis Fuß und blickten anschließend über Greys Schulter, wo sechs bewaffnete Soldaten Stellung bezogen hatten und ihre Musketen auf ihn gerichtet hielten. Schließlich verzog Fraser die Mundwinkel und erwiderte: »Das gilt auch für mich, Major.«
10
Der Fluch der weißen Hexe
Zitternd vor Kälte saß Jamie Fraser auf dem Steinboden des leeren Lagerraums. Gewiß würde ihm bis ans Lebensende nicht mehr warm werden. Bis tief ins Mark war ihm die Kälte des Meerwassers gedrungen, und immer noch spürte er im Innern seines Körpers den Strudel der tosenden Brandung.
Er wünschte sich, daß seine Mitgefangenen bei ihm wären - Morrison, Hayes, Sinclair, Sutherland. Nicht nur ihrer Gesellschaft wegen, sondern um die Wärme ihrer Körper zu spüren.
Doch er war allein. Gewiß würde man ihn nicht zurück in die große Zelle bringen, ehe er für seine Flucht bestraft worden war. Als er sich seufzend an die Mauer lehnte, wurde er sich seiner schmerzenden Wirbel und seiner empfindlichen Haut bewußt.
Obwohl er das Auspeitschen fürchtete, hoffte er auf diese Bestrafung. Zwar war sie eine Tortur, dafür aber schnell vorbei - und längst nicht so schlimm, wie erneut in Ketten gelegt zu werden.
Aber er machte sich keine großen Hoffnungen. Dieser verdammte kleine Major hatte die Schürfwunden gesehen - er wußte also, welche Marter die Ketten bedeuteten.
Dieser Zwerg hatte eine Abmachung mit ihm getroffen, an die er, Jamie Fraser, sich gehalten hatte. Aber der Major war da wohl anderer Meinung.
Wie versprochen hatte Jamie wortgetreu wiederholt, was der Wanderer ihm zugeflüstert hatte. Den Engländer wissen zu lassen, daß er den Mann kannte, oder ihm zu erklären, welche Schlüsse er aus den Worten des Sterbenden gezogen hatte, war nicht Teil ihrer Vereinbarung gewesen.
Er hatte Duncan Kerr auf Anhieb erkannt, obwohl ihn die Jahre und seine tödliche Krankheit verändert hatten. Vor Culloden war
er Pächter bei Jamies Onkel Colum MacKenzie gewesen. Nach der Schlacht war er nach Frankreich geflohen und hatte sich dort durchgeschlagen.
»Sei ruhig, a charaid; bi sàmhach«, flüsterte er dem Kranken auf gälisch zu und kniete sich neben sein Bett. Das besorgte Gesicht des Alten mit den fiebrig glänzenden Augen war von Krankheit und Erschöpfung gezeichnet. Jamie hatte zunächst vermutet, Duncan sei bereits zu verwirrt, um ihn zu erkennen. Doch dann drückte er Jamies Hand unerwartet heftig und sagte dabei immer wieder: »Mo charaid.« Mein Verwandter.
An der Tür stand der Wirt und lugte Major Grey über die Schulter. Jamie senkte den Kopf und raunte Duncan ins Ohr: »Der Engländer erfährt alles, was du sagst. Überleg es dir also gut.« Der Wirt kniff die Augen zusammen, doch er stand zu weit weg, um etwas aufschnappen zu können. Als ihn der Major ein wenig später aufforderte, den Raum zu verlassen, war Jamie außer Gefahr.
Jamie wußte nicht, ob es an seiner Warnung oder an Duncans Fieber lag, daß die Worte des Kranken ziemlich zusammenhanglos waren. Zuweilen ergaben die Worte jedoch Sinn.
»Auf dem Gold liegt ein Fluch«, flüsterte Duncan. »Ich warne dich, Junge. Es ist ein Geschenk der weißen Hexe an den Sohn des Königs. Aber die Sache ist verloren, und der Sohn des Königs ist geflohen. Sie wird nicht
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