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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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klassischen Ikonografie der Volksreligion - eiternde Stigmata, ausgehackte Augen, von Schwertern durchbohrte Herzen, abgeschlagene Köpfe, Beine und Hände -, nur dass diese Details dreidimensional gestaltet oder von purpurfarben blinkenden Lämpchen beleuchtet waren und sich die Figuren von einem Wald von Kreuzen, einer wahren Orgie von Kreuzen in grellen Neonfarben abhob. »Stark« war das tatsächlich - die Bestätigung dafür, dass in der Kunst der Stil wirklich alles entstellen kann -, und ich ließ mich von dieser Erkenntnis dermaßen hinreißen, dass ich, als ich es ihr sagte, auf ihrem wächsernen Gesicht dieselbe träumerische Genugtuung wiedererkannte, die ich selbst angesichts von Charles’ Begeisterung über meinen Roman empfunden hatte. Ach ja, mein Roman! Eine große Lust packte mich, sofort nach Hause zu gehen und mich wie ein Besessener auf das Schreiben zu stürzen. Stattdessen läutete die Haussprechanlage.
    »Das muss Frank sein, der dich zurückruft«, sagte sie, schlagartig abgekühlt. »Jedenfalls hast du gesehen, was es zu sehen gibt … Ich hoffe, dich bald wiederzutreffen, Carlo.«
    ›Ich nicht unbedingt‹, dachte ich, ohne mir im Entferntesten das Glücksgefühl vorstellen zu können, das ich empfinden sollte, als dieser Fall tatsächlich einmal eintrat, und folgte ihr und ihrem sauren Geruch zur Tür, doch während ich auf die spitzen Schulterblätter schaute, die aus ihrem Pullover herausragten, erkannte ich plötzlich, ich weiß auch nicht genau, warum, dass ihre Bilder entgegen meinem ersten Eindruck nichts waren als die Halluzinationen
einer armen Irren - aber auch in dieser Hinsicht sollte ich meine Meinung revidieren müssen.
    Der Rest des Abends verlief den Umständen entsprechend. Cargallo brachte mich mit dem Gehabe eines noblen Gastgebers in das Lokal, in dem wir schon nach der Schlägerei gewesen waren. Nur dass uns dieses Mal in einem Separee, das uns teilweise vom Rest des Publikums trennte, zwei Mädchen erwarteten. Wir betranken uns mit einem grauenhaften kalifornischen Sekt, aber mitten im schönsten Augenblick stand er auf und sagte: »Amüsier dich gut, ich verabschiede mich jetzt. Ich hab zu tun.«
    »Was, du lässt mich allein? Hältst du das für eine Art, seine Freunde zu behandeln?«, nahm ich ihn, einigermaßen irritiert, auf die Schippe.
    »Das nächste Mal ruf eben ein paar Tage vorher an … Heut Abend hab ich jedenfalls noch’nen Termin. Wir sind ja nicht in Italien, hier wird gearbeitet.«
    Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, was für eine Art von »Termin« wohl auf ihn wartete; außerdem gaben mir die beiden Mädels ganz anderes zu bedenken, auch wenn ich mir, als ich nach Hause zurückkehrte, wirklich armselig vorkam. Bis nach New York hatte ich kommen müssen, um bei den Nutten zu landen - nicht einmal in meinem Dorf hatte ich mich derart erniedrigt.
    Auch das Dinner bei Charles am folgenden Abend kündigte sich als Enttäuschung an - und wäre es nur dabei geblieben! Insgesamt waren ungefähr zehn Gäste da, eine Auswahl von drögen Kennern mittelalterlicher Inkunabeln, jungen Spezialisten für Ketzer und Kreuzzüge und kurzsichtigen, vom heiligen Feuer der Forschung entflammten Assistenten, und es war noch nicht einmal Mitternacht, da hatte sich die Zahl der Gäste auf zwei reduziert: mich und Onkel Richard - ja, leider war auch er dabei. Bis dahin hatte ich mich so weit wie möglich von Jennifer ferngehalten, der die Mutterschaft eine noch üppigere Schönheit verliehen hatte. Ich war jedem ihrer Blicke ausgewichen, und während ich so tat, als konzentrierte ich mich auf die Konversation
mit einer bebrillten Wissenschaftlerin, die mich über Papst Urban II., Gottfried von Bouillon und die Eroberung von Jerusalem ins Bild setzte, hatte ich Jennifers Aufforderung ignoriert, ihr bei der Auswahl der Aperitifs zu sekundieren. So war ich am Ende des Abends sehr froh, als sie sich von uns verabschiedete, weil sie, wie sie unbekümmert bekanntgab, den Kleinen stillen musste. Soweit ich mich erinnerte, hatten in Italien die Frauen einer gewissen Schicht, die amerikanischen Moden folgte, gerade in jenem Moment aufgehört, ihren Kindern die Brust zu geben, als man in Amerika wieder dazu zurückgekehrt war. Ich nahm es zur Kenntnis und behielt die Idee im Hinterkopf, die kommerziellen Konsequenzen dieser Tatsache in einer der nächsten Sitzungen der Di Lontrone Corporation aufs Tapet zu bringen - auch wenn mir das selbst nicht mehr zugute kommen sollte. Noch

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