Ferne Verwandte
mir das Gesicht überschwemmte und jeden Gedanken fortspülte. Eine Minute höchstens, und wir kamen mit der Raserei zweier Tiere. Das Problem war nur, dass auch Onkel Richard gekommen war - er war wieder da, will ich sagen.
Er blieb in der Tür stehen. Von unserer Position hinter dem Sofa konnten wir seinen massigen Kopf erkennen, seine Augen, die glühten wie die einer alten schrecklichen Gottheit. Er starrte auf Charles und gab etwas von sich wie einen Seufzer - eher eine Mischung aus Schluchzer und Seufzer -, dann ging er wieder.
Ein paar Augenblicke verharrten wir regungslos gegen den ockerfarbenen Samt des Sofas gelehnt, nackt, verängstigt, wehrlos wie Adam und Eva nach ihrem berühmten Sündenfall. Mich packte außerdem noch ein ganz anderes Gefühl. Jetzt, da ich mich wortlos
wieder anzog, fühlte ich mich schlimmer als ein Wurm … Ich kam mir lächerlich vor, lächerlich und fehl am Platz. Doch ich war auch dieses Mal davongekommen, und ein weiteres Mal würde es nicht geben. Lieber würde ich sterben.
32
Am Morgen machte ich mich pünktlich wie immer auf den Weg ins Büro, doch im Gegensatz zu jedem anderen Morgen war ich vergnügt wie jemand, der einer Riesengefahr entronnen ist und nun erst zu schätzen weiß, was das Leben zu bieten hat. Deshalb hielt ich um Punkt neun mit meinem flotten Managerschritt Einzug in das Gebäude der Di Lontrone Corporation - und wurde auf der Stelle hinausgeworfen.
Die Genugtuung, mit der die beiden Wachleute mich auf den Gehsteig katapultierten, machte mir schlagartig bewusst, dass es nicht richtig gewesen war, Onkel Richards Rat befolgt und sie nie mehr eines Grußes gewürdigt zu haben. Vor allem aber begriff ich, dass ich am Abend zuvor die falschen Schlüsse gezogen hatte: Onkel Richard hatte mich und Jennifer sehr wohl bemerkt. Jetzt war alles vorbei. Um nichts in der Welt hätte ich mich gegen seinen Enkel stellen dürfen - seinen leiblichen Enkel -, und ich hatte es vor dessen Augen, so blind die auch gewesen sein mochten, mit seiner Frau getrieben, und das würde mir Onkel Richard nie verzeihen, zumal er trotz des ganzen Yankeegetues der Süditaliener von einst geblieben war. Das Merkwürdige war, dass ich mich trotz der Umstände meiner Entlassung - verdammt noch mal, hatte er mich denn unbedingt mit Fußtritten vor die Tür setzen lassen müssen?! - schon beim Aufstehen so fühlte, als hätte ich mich von einer tonnenschweren Last befreit: Ich war frei, endlich. Wäre nicht passiert, was passiert war, weiß ich nicht, ob ich je den Mut aufgebracht hätte, meiner eigenen Wege zu gehen. Aber nun war es geschehen.
Was genau ich jetzt machen würde, wusste ich nicht, doch in den beiden letzten Jahren hatte ich genug verdient, um in Ruhe darüber nachdenken zu können. Außerdem hatte ich Cybill, und wir würden bald heiraten. Ja, es gab wirklich keinen Grund zur Sorge. Die ersten Zweifel beschlichen mich, als ich versuchte, nach Hause zurückzukehren.
Ich klopfte mir den Staub ab und sah, dass ich mir an einem Ellenbogen den Ärmel aufgerissen hatte. Nicht weiter schlimm, denn in meinem Kleiderschrank hingen noch elf ähnliche Anzüge. Ich ging also zum Eingang der Garage, doch mein Mercedes, den ich soeben dort abgestellt hatte, war verschwunden. Der Parkwächter erklärte lakonisch: »Anweisung von Mr Di Lontrone.« Wie kann man nur so gemein sein? Während ich mich das noch fragte, musste ich auch schon lachen. Das war allerdings nur die erste einer Reihe von Überraschungen, die mich erwarteten, und bald sollte ich nicht mehr lachen.
Als ich vor meinem Haus aus dem Taxi stieg, schien mich der über und über mit Tressen verzierte Portier, statt wie üblich die Mütze zu ziehen, gar nicht wahrzunehmen, und mit wachsender Besorgtheit lief ich die Treppe zu meinem Stockwerk hinauf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich versuchte es zumindest, denn dieser Scheißkerl hatte schon das Schloss auswechseln lassen.
Nachdenklich stromerte ich den ganzen Vormittag herum. Immer mit der Ruhe, sagte ich mir, das Wichtigste ist, Ruhe zu bewahren. Ich musste Entscheidungen treffen, mich neu organisieren. Als Erstes musste ich mir eine neue Unterkunft suchen. Ein Apartmenthotel wäre ideal, zumindest bis zu Cybills Rückkehr, dann würden wir weitersehen - aber wann würde sie zurückkommen? Während ich auf sie wartete, könnte ich mit meinem Roman weitermachen, nur schade, dass er, wie alles, was mir gehörte, in meiner Wohnung geblieben war. Kann man überhaupt
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