Ferne Verwandte
er großmütig: »In Ordnung, Carlé, dann sag ich eben den andern Termin ab. Wir sehn uns dann um acht, ja?«
»Ist das nicht ein bisschen früh? Ich hatte eigentlich vor, in irgendein Lokal zu gehen.«
»Das tun wir auch, aber später. Lass nur Frank Cargallo machen, und du wirst schon sehn, was für’n Abend ich arrangier … Wohnst du noch immer da?«
Er kam pünktlich, doch nicht mit dem graupenfarbenen Cadillac vom vorigen Mal, sondern in einem grimmig aussehenden Pontiac - in Bezug auf Autos hatten wir denselben Geschmack -, den er selbst hinter seinen doppelten Brillengläsern mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit
durch ein Gewirr von Nebenstraßen steuerte. Nur ein einziges Mal trat er auf die Bremse, und da standen wir schon vor seinem Haus in Brooklyn - offensichtlich -, in dem er mit seiner berühmten Schwester, die ich nicht sofort zu Gesicht bekam, und mit seiner Mutter wohnte. Mit Letzterer hatte ich am Telefon gesprochen, jetzt aber hatte sie ihr Misstrauen abgelegt und empfing mich mit der Fürsorglichkeit, die bei uns im Süden die Frauen eines gewissen Alters dem Priester und dem Amtsarzt zuteil werden lassen, außerdem jenen wenigen unter den Freunden ihres Nachwuchses, die sie seiner für würdig erachten.
»Tschuldigt wegen heut früh, aber ich hab nicht gewusst, dass Ihr’n Kumpel von Frank seid … Passt bloß auf: Diese Stadt ist voller Gesindel.«
›Na großartig‹, sagte ich mir, auch wenn niemand, der gesehen hätte, wie liebevoll Frank Cargallo seine Mutter umarmte, sich hätte vorstellen können, um was für einen Verbrecher es sich handelte. Auch was die Wohnung anbelangte, hätte niemand geahnt, wer hier lebte, am wenigsten ich, dem dieses Ambiente wohlvertraut war, so viele Male hatte ich es in der Contrada soprana auf den Fotos der Emigranten gesehen: Hier fand man dieselben kleinen Vitrinen, vollgestopft mit Pierrots, Püppchen und Flaschen mit Asti Spumante, Strega und Martini, mit fluoreszierenden Schiefen Türmen von Pisa und muschelüberwucherten Gondeln; man sah dieselben Tapeten mit Achtecken, Blumen und Streifen, zumindest dort, wo man überhaupt etwas sehen konnte, weil es nicht wie alles andere mit Bildern und Bildchen von italienischen Stränden und Bergen, von Heiligen und Madonnen zugepflastert war. Besonders ein großer heiliger Antonius von Padua fiel ins Auge, der Schutzpatron von Frank, wie ich mich erinnerte, und wie ein kleines Kind auf dem Nachhauseweg vom katholischen Jugendzentrum wollte besagter Frank nun seinem Busenfreund - meiner Wenigkeit - das Familienalbum zeigen. Verdammt, da hatte ich ja einen berauschenden Abend vor mir! Beim Bild seines Vaters überkam ihn regelrecht Rührung. »Wie schön er war«, seufzte er in Richtung dieses
Halunken, der uns drohend aus dem Jenseits anstarrte, in das er vorzeitig und auf mysteriöse Weise eingegangen war - darüber, wie er dorthin gelangt war, hatte ich, da ich seinen Sprössling kannte, so meine Vermutungen, die mir von der Mutter prompt bestätigt wurden.
»Er war wie Frank«, beteuerte sie aus der Küche heraus, ebenfalls unter Tränen. Dann wandte sie sich an ihren Sohn: »Ich hab dir immer gesagt, du schuftest zu viel, pass bloß auf, dass du nicht wie dein Vater endest.«
» Tié «, erwiderte er und spreizte Zeigefinger und kleinen Finger ab, um zukünftiges Unglück abzuwehren.
»Du rackerst dich so ab. Komm mal zur Ruh. Es iss Zeit, dass du dir’ne Frau nimmst und’ne Familie gründest … Hab ich nicht recht, Signò Lontrò?«
»Carlo, Signora, nennt mich Carlo«, forderte ich sie freundlich auf und handelte mir damit ein Lächeln meines Freundes ein.
»Carlé«, fing sie wieder an, »der da will sich nicht binden. Sagt Ihr ihm, dass er heiraten soll … Seid Ihr verheiratet?«
»Ich werde in einem Monat heiraten.«
»So isses brav. Überzeugt ihn auch, sonst werd ich darüber alt und grau. Oder findet doch Ihr’n braves Mädel für ihn, auch wenn’s’ne Amerikanerin iss, das macht mir nix aus, nur’ne Negerin soll’s keine sein, das sind lauter Nutten. Ich sag immer: Wenn ich mal tot bin, bist du mutterseelenallein, denn auf deine Schwester iss kein Verlass, die iss’ne Künstlerin. Komm, sei Mammas Augenstern: Hol sie rauf. Ich gieß gleich die Spaghetti ab.«
Frank ging zu einer Haussprechanlage, doch bevor er den Hörer abnahm, klärte er mich auf: »Sie hat ihr Atelier unten.« Dann flötete er mit einer für ihn merkwürdigen Sanftheit in die Sprechmuschel: »Es iss so weit,
Weitere Kostenlose Bücher