Ferne Verwandte
dafür geben, und inzwischen
konnte er ja auch ahnen, worum es sich handelte. Wo sollte ich außerdem nach ihm suchen? Wann immer ich es an der Columbia versucht hatte, war er irgendwo anders gewesen, und bei ihm zu Hause anzurufen, verbot mir schon der Gedanke, an Jennifer zu geraten. Ohne sie wäre es ein Tag wie jeder andere gewesen, während mir mein Leben, das ich vor kaum ein paar Stunden noch verachtet hatte, jetzt bereits wie ein fernes, verlorenes Paradies vorkam. Nein, der Einzige, der mir wirklich beispringen konnte, war Frank Cargallo. Ich war regelrecht begeistert von der Vorstellung, wie er auf mein Hilfegesuch reagieren würde. Das war seine große »Tschanze«, er musste mir nur ein paar tausend Dollar für einen Anwalt vorstrecken, und ich würde ihm, dem kleinen Vorstadtkriminellen, die Gelegenheit bieten, Richard Di Lontrone, einem der mächtigsten Männer Amerikas, eins auf die Mütze zu geben. So musste es funktionieren: Onkel Richard hatte meine Konten sperren lassen, hatte damit aber einen Fehler begangen, der unter seiner Würde war. Um ihn mit dem Rücken an die Wand zu drängen, würde es genügen, bei Gericht die Zeitungsartikel über meine Ernennung zum Verwaltungsrat vorzulegen. Wie würde er dann meinen Status als Habenichts erklären? Und nach den Demütigungen, denen er mich ausgesetzt hatte, würde ich mich auch nicht damit begnügen, mein Geld zurückzuerhalten, sondern würde moralische Wiedergutmachung fordern. Außer der Genugtuung galt es, sich zu bereichern, und wie ich Cargallo kannte, würde er gewiss ordentlich zulangen. Am Telefon sagte mir seine Mutter jedoch in feindseligem Ton, dass Frank seit vorgestern Abend verschollen sei, ja, sie wolle vielmehr von mir wissen, wo wir zusammen hingegangen seien. Sie ließ mir kaum Zeit zu antworten, da knallte sie schon unter wüsten Beschimpfungen den Hörer auf. Es schien, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.
Ich machte mich wieder auf die Socken - es heißt ja, dass das Gehen Ordnung in die Gedanken bringe, aber in meinem Fall gab es wenig zu ordnen. Außerdem brach die Nacht an, und ich wusste immer noch nicht, wo ich schlafen sollte. Ich war in New York, in
der Nähe des Rockefeller Center, mitten im Herzen jener Stadt, in der zu leben ich mir immer erträumt hatte. Die Menschen - ein ganzer Strom von Menschen - gingen neben mir her, sie kamen von der Arbeit und liefen mit jenem klassischen federnden Schritt, der mich so oft im Fernsehen begeistert hatte, und ich kam mir vor wie das einsamste und unglücklichste Wesen der Welt. Plötzlich vernahm ich in der Ferne die Musik einer Kapelle. Aber wie anders war sie als jene, die mich als Kind im Dorf so oft geweckt hatte! Sie hatte etwas Klägliches, und tatsächlich kam sie aus den Instrumenten einer Kapelle der Heilsarmee. Traurig trat ich an eine der Damen heran, eine kleine Mollige mit runden Augengläsern und einer Haube, deren Band sich um den speckigen Hals spannte. Sie verteilte Broschüren - in wie vielen Filmen hatte ich das nicht schon gesehen? Ihren Angaben folgend, nahm ich die Untergrundbahn, zum ersten Mal seit ich in New York war. Ich hatte nicht viel versäumt. Beim ersten Halt stieg ich in einen anderen Wagen um. Dort starrten ein paar Schwarze bedrohlich auf meine Armbanduhr; ich hatte sie von Cybill geschenkt bekommen, und davon mal abgesehen war sie der einzige Wertgegenstand, der mir verblieben war.
Für diese Nacht gelang es mir mit Hilfe der Summe, über die ich noch verfügte, ein Einzelzimmer zu ergattern. Ich verbrachte ungefähr eine halbe Stunde damit, unter Verrenkungen die lange Hausordnung, die hinter der Tür hing, zu studieren, und als ich fertig war und die geflickte Bettdecke, die mit Rotz und Popeln verschmierten Wände und den buckligen Fußboden betrachtete, schien es mir, als fehlte trotz der Akribie, mit der sie abgefasst war, die wichtigste Vorschrift: »Es ist verboten, Selbstmord zu begehen!« Danach sank ich, vollständig angekleidet, in einen Schlaf voller Albträume: Onkel Richard, Nonnilde, Charles und Jennifer traten darin auf, und alle Gesichter waren bleich wie böse Geister und schrien mich an. Schon bei Tagesanbruch hatte ich die Nase voll und trat, nachdem ich das gemeinschaftliche Bad am Ende des Korridors benutzt hatte, hinaus ins Freie.
Seit ich in New York war, hatte ich die Stadt noch nie zu dieser Stunde erlebt, und wie ich jetzt feststellte, hatte ich auch da nicht viel versäumt. Ziellos wanderte ich
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