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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Stunden tun. Jetzt gehen Sie ruhig in Ihr Hotel zurück, und wenn Sie wiederkommen, bringen Sie Kleider mit, die werden Sie brauchen.« Beinahe hätte ich gesagt, dass ich nichts besaß als das, was ich am Leib trug, aber er hatte mich schon abgefertigt. Er schrieb wieder etwas in sein Register, und als ich mich beim Ausgang noch einmal umdrehte, um ihn zu fragen, an wen ich mich bei meiner Rückkehr wenden soll, klebten seine Lippen schon an der Sprechmuschel, wobei sein Blick in alle Richtungen zuckte. Er redete von mir, da war ich mir sicher. Als er mich bemerkte, erbleichte er, klemmte sich den Hörer unters Kinn und antwortete lächelnd: »Bei dem Kollegen, den Sie hier an meinem Platz antreffen werden … Ich diktiere ihm gerade einen Vermerk, mein Herr.«
    Als ich hinausging, dämmerte es bereits. Ich steuerte mein Hotel an, doch der Gedanke, mich dort einzusperren, erschien mir plötzlich unerträglich, und ich schlug eine andere Richtung ein. Ich brauchte Luft, und um diese Zeit war die Luft in New York unglaublich leicht. Während ich einsam durch die menschenleeren Straßen ging, wo bläuliches Licht die Wolkenkratzer umspielte, kam ich mir vor wie einer dieser vom Schicksal verfolgten Helden in den Filmen, die ich mir als kleiner Junge angesehen hatte. Ich betrat
eine Bar, und nachdem ich mir Zigaretten aus dem Automaten geholt hatte, setzte ich mich an ein Tischchen, trank und rauchte und suchte Blickkontakt mit der Kellnerin - wie das so ist mit diesen Figuren: Mit einem einzigen Blick entflammen sie das Herz von Frauen, die letztlich ihre Retterinnen sein und dabei sogar das eigene Leben aufs Spiel setzten werden. Aber nein, es gab keine Frau, die mich retten würde - ich hatte mich seit einer Woche nicht mehr rasiert, war verdreckt, zerlumpt und betrunken, und das Mädchen riss mir nur angewidert das geschuldete Geld aus der Hand. Beim Hinausgehen wäre ich beinahe hingefallen, so sehr drehte sich mir der Kopf. Die beiden Stunden bis neun würde ich in meinem Bett im Mainstream verbringen.
    Das Hotel war nicht weit weg, und obwohl es dank der durchnummerierten Straßen praktisch unmöglich ist, sich in Manhattan zu verlaufen, schaffte ich es trotzdem. Als ich aus einer übel riechenden Gasse herauskam, blickte ich mich um und erlebte plötzlich zwei Überraschungen: Die erste war, dass ich kaum zwanzig Meter von meinem Hotel entfernt war. Die zweite, dass genau vor meiner Nase der graupenfarbene Cadillac von Cargallo stand. Den Typ drinnen erkannte ich schon an den Schultern wieder, und ein Schwall eiskalten Blutes schoss mir in den Kopf. Ich ging rückwärts, ohne mich umzudrehen, ohne auch nur zu atmen, und kaum war ich wieder in der Gasse, rannte ich los und stöhnte. Was hatte ich bloß verbrochen, um das alles zu verdienen?
    Ich blieb erst stehen, als meine Beine steif wie Pfähle waren. Mein Mund war schleimverschmiert, Herz und Schläfen platzten schier, und ich fiel der Länge nach auf eine Freitreppe. Tore, Cargallos Stellvertreter, der Mann im Cadillac: Er war es, mit dem der Polizist am Telefon gesprochen hatte! Schon einmal hatte er versucht, mich zu massakrieren, und jetzt würde ihn keiner mehr daran hindern. Ich musste abhauen, verschwinden, aber wie, mit dem wenigen, was mir geblieben war? Während ich noch darüber nachdachte, bemerkte ich den Typ, der auf der Stufe über mir im schmuddeligen Schatten eines Hausflurs schlief, eine Plastiktüte in
den Armen und eine ganze Aureole leerer Flaschen um sich herum. Seine Mutter hatte gewiss andere Hoffnungen für diesen Unglücklichen gehegt, aber jetzt hätte nicht einmal sie ihn wiedererkannt. Tja, nicht einmal mehr die eigene Mutter.

33
    Und so wurde ich Stadtstreicher - ein homeless , wie man sie in New York nennt. Früher hatte ich mich, wenn ich solche Typen unterwegs sah, oft gefragt, wie sie nur so weit hatten herunterkommen können. Jetzt weiß ich es und kann es verraten: Es ist überhaupt nicht schwer.
    Abgesehen vom Übrigen genügte es in meinem Fall, einen Secondhandshop zu betreten und mich meines maßgeschneiderten grauen Anzugs zu entledigen. Der fette Kerl hinter dem Ladentisch besah ihn sich nur flüchtig, und auch meine handgearbeiteten Kalbsledermokassins würdigte er kaum eines Blickes. Obwohl sie inzwischen keinen tollen Anblick mehr boten, kamen mir die fünfzehn Dollar, auf die er sie schätzte, dennoch schäbig vor. Für die neue Montur musste ich ihm sogar noch fünf Dollar extra hinblättern. Als ich jedoch

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