Ferne Verwandte
verteilten großzügige Almosen. Vor allem wurde ich mit jeder Woche, die verging, optimistischer. Bald würde ich Cybill wiedersehen. Alles würde in Ordnung gehen, und später würden wir über diese traurige Erfahrung gemeinsam lachen. Was mich wirklich quälte, war die Hitze, aber mir war nicht danach zumute, auf meine »Verkleidung« zu verzichten. Kaum hatte ich ein paar Dollar gespart, lief ich in ein Stundenhotel, um mich zu duschen, stank aber trotzdem von Tag zu Tag mehr. Was würde meine Liebste denken, wenn sie mich wieder in ihre Arme schlösse? Und vor allem: Wann würde das sein? Bald war August, und auch dieser Monat verstrich, und
obwohl ich mich jetzt so nah wie möglich vor dem Eingang ihres Elternhauses postierte - stets unter den drohenden Blicken eines der üblichen tressenübersäten Portiers -, und obwohl ich mich nur für jene wenigen Minuten entfernte, die meine körperlichen Bedürfnisse erforderten, war von Cybill keine Spur zu sehen. Bis ich sie eines Morgens - ich war kaum zur Stelle - aus einem Taxi steigen sah und mein Herz einen Sprung machte. Ich beobachtete, wie sie unter das smaragdgrüne Vordach des Hauseingangs trat. Freudetrunken rannte ich hinter ihr her, rief sie beim Namen und hätte sie beinahe am Arm gezupft, doch im selben Moment, da sie sich schreiend umdrehte, begriff ich, dass sie es gar nicht war. Nach den Drohungen, die der Portier mir nachrief, als ich mich mit einem Ruck aus seinem Griff befreit hatte, war mir klar, dass ich mich fernhalten musste, und so beschloss ich zu tun, was ich vielleicht schon viel früher hätte tun sollen: Ich rief bei den Collins an. Natürlich sagte ich nicht, wer ich war, denn dort las man bestimmt Zeitung und sah fern.
»Mein Name ist Pater Sigismondo, ich bin von der Zeitschrift Glauben und Wissen «, erprobte ich am Butler meinen sorgfältig ausgeklügelten Trick. »Ich habe einen Termin für ein Interview mit Frau Cybill Collins.«
»Die gnädige Frau ist verreist, Pater«, antwortete er beflissen.
»Gewiss, sie hat eine Zeit der Besinnung eingelegt. Mir hatte sie jedoch gesagt, dass sie in diesen Tagen zurückkäme.«
»Sie haben recht. Nur ist sie leider schon wieder abgereist.«
»Was heißt das?«, fragte ich aufgebracht. Zu aufgebracht. Etwas ruhiger schob ich hinterher: »Und mein Interview?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Pater«, erwiderte er, schon weniger beflissen.
»Sehen Sie, es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit. Ihr Beitrag wird neben jenen bekannter Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur erscheinen … Bitte, mein Sohn, tun Sie mir den Gefallen, und sagen Sie mir, wo sie ist.«
»Das ist unmöglich, mein Herr.« Und er legte auf.
Was jetzt? Ohne groß nachzudenken, steckte ich sofort eine weitere Münze in den Schlitz. Dieses Mal rief ich bei Charles an. Ich musste unbedingt wissen, wo sich Cybill aufhielt, und von wem ich das erfuhr, war mir egal.
»Mr Di Lontrone ist nicht in der Stadt«, antwortete der zweite Butler.
»Wann kommt er zurück? Wir hatten einen Termin für ein Interview«, fragte ich, immer noch in der Rolle des geistlichen Herrn.
»In sechs Monaten, Pater.«
»Sechs Monate, und wie soll ich … Geben Sie mir bitte Jennifer … Die gnädige Frau, meine ich.«
»Sie befindet sich in Begleitung von Mr Di Lontrone.«
»Und Sie haben keine Adresse, keine Telefonnummer?«
»Ich weiß nur, dass Mr Di Lontrone sich auf Forschungsreisen befindet. Ich bedaure sehr.«
»Ich beschwöre Sie, es ist für mich von größter Wichtigkeit. Ich bin eigens deswegen nach New York gekommen …« Aber schon redete ich alleine weiter. Und alleine fühlte ich mich auch und verloren, während das Telefon mir ins Ohr tutete. Sechs Monate, sechs lange Monate, wo ich doch nicht einmal eine Sekunde mehr von diesem Scheißleben ertrug! Ich riss mir die Jacke vom Leib, warf die Mütze weg und hielt meinen Kopf unter den Strahl eines Brunnens. Als der Verkäufer mich schmutzig und triefend in seinen Laden treten sah, wollte er schon etwas sagen, aber mein finsterer Blick belehrte ihn eines Besseren. Ich legte alles, was ich hatte, auf die Theke, und ging mit den beiden ersten Flaschen meines Kolossalbesäufnisses hinaus.
Ich betrank mich tagelang, wochenlang, monatelang. Sobald ich ein paar Dollar zusammenhatte, kaufte ich mir etwas zu trinken. Ich aß auch nichts mehr, ich lebte praktisch vom Alkohol. Und von Träumen. Ich träumte ständig. Auch wenn ich wach war. Es waren eher Visionen als
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