Fesseln der Erinnerung
verraten“, sagte Max, ging auf leisen Sohlen zur Tür und drückte die altmodische Klinke vorsichtig hinunter. Wie gehofft, hatte die Bestie nicht abgeschlossen – Bonner verhöhnte seine Opfer, indem er ihnen scheinbar die Möglichkeit bot, zu entkommen. Max drückte die Tür ein wenig auf und riskierte einen Blick ins Innere. Im Wohnzimmer war niemand, er schlüpfte durch die Tür.
Da er nicht wusste, ob Krychek noch etwas anderes als kalte, intellektuelle Neugier bewegte, überließ er den Ratsherrn sich selbst, zog Schuhe und die durchweichten Strümpfe aus und schlich auf leisen Sohlen zu der halb offenen Tür an der gegenüberliegenden Wand. Er drückte sich neben dem Rahmen flach an die Wand und spähte durch den Spalt zwischen den Türangeln.
Sophie!
Mit wirrem Haar saß sie am Kopfende des Bettes, blaue Flecken und Schürfwunden im Gesicht. Aber am meisten Sorge bereitete ihm die Art, wie sie dasaß. Der Kopf fiel immer wieder zur Seite, sie schien Mühe zu haben, ihn zu heben und gerade zu halten. Ihre Hände lagen wie leblos neben ihren Oberschenkeln, und vor ihr saß die Bestie und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Quälte sie damit.
Das Bedürfnis, die Betäubungspistole in seiner Hand an Bonners Schädel zu setzen, war so stark, dass Max die Anspannung in den Schultern spürte. Er wollte gerade schießen, als Krychek neben ihm auftauchte. Der Ratsherr nickte ihm kurz zu, und diesmal war Max vorbereitet. Schon stand er vor Bonner und hielt ihm die Pistole an die Schläfe.
Bonner erstarrte. „Detective?“
„Die Hand runter, sonst schieße ich“, sagte Max in einem Ton, der keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er Ernst machen würde.
Bonner riss die blauen Augen auf. „Ich glaube fast, Sie meinen es ernst.“ Sein Arm zuckte.
Max schoss ihm in die verdammte Hand, bevor er Sophia noch einmal anfassen konnte. Knochen splitterten. Sophia warf sich zur Seite. Max hatte die Situation unter Kontrolle und wollte den Schlächter gerade zu Boden werfen und ihm Handschellen anlegen, als Bonner mit einem Aufschrei durch den Raum flog und in einer Ecke landete.
Max hatte sich schützend über Sophia geworfen und hob den Kopf. „Bonner stellt keine Gefahr mehr dar.“ Er setzte sich auf das Bett und zog Sophia an sich.
„Der Kerl ist eine Gefahr, solange er lebt“, sagte Kaleb und sah Sophia und Max auf eine Weise an, dass dieser sich fragte, ob ihm nun ein anderer Mörder gegenüberstand. „Es wäre nur vernünftig, ihn auszulöschen.“
„Ist er denn noch nicht tot?“
„Kurz davor, der Unterschied ist geringfügig.“
Max traf eine Entscheidung. „Holen Sie alles aus seinem Kopf. Wir müssen wissen, wo er seine Opfer vergraben hat, damit ihre Familien sie endlich richtig begraben und um sie trauern können.“ Er fragte sich, ob ein Medialer dafür Verständnis haben würde.
Doch Kaleb Krychek stellte keine Fragen. „Erledigt. Ich werde es Ihnen aufschreiben.“ Er schwieg kurz. „Der Mann ist tot. Tut es Ihnen leid?“
Max betrachtete Bonners verrenkten Köper und spürte nichts weiter als Erleichterung. „Nein.“ Vielleicht hätte jemand, der ein besserer Mensch war, etwas anderes gesagt, aber Max hatte nie danach gestrebt, ein besserer Mensch zu sein. Er drückte Sophia an sich und sah sie an. „Sophie?“
Sie antwortete nicht, ihre Augen waren geschlossen, die Wimpern lagen wie dunkle Halbmonde auf der Haut. „Sie muss ins Krankenhaus.“
Krychek schien sich nicht bewegt zu haben, aber einen kurzen Augenblick später stand Max neben dem Ratsherrn in einer Klinik der Medialen. Das Personal erstarrte kurz und machte sich dann rasch an die Arbeit. Max beantwortete die knappen Fragen und überließ es ihnen, sich um Sophia zu kümmern – doch er wich nicht von ihrer Seite.
Krycheks Verschwinden bemerkte er nicht einmal.
Kaleb musterte den Menschen, den er gerade getötet hatte, seine Finger spielten mit dem kleinen Platinanhänger – einem einzelnen vollkommenen Stern – , den er immer bei sich trug. Er sah den Stern an und sagte: „Für dich.“ Für die einzige Person auf dieser Welt, die er besser als jede andere kannte, und zu der er doch nicht teleportieren konnte, so oft er es auch versuchte.
Was er in den vergangenen sechs Jahren jeden Tag getan hatte.
Wenn jemand in diesem Augenblick bei ihm gewesen wäre, hätte er sich vielleicht über den dunklen Schatten gewundert, der die Sterne in Kalebs Augen zum Verlöschen gebracht hatte. Sie waren jetzt von
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