Fesseln der Erinnerung
unheimlich intelligenten, komplizierten Mann, der in ihr – wenn auch nur den Bruchteil einer Sekunde lang – den Wunsch geweckt hatte, normal zu sein. Aber diesen Traum hatte sie vor zwanzig Jahren zwischen messerscharfen Glassplittern und schrillen Schreien begraben. „Ratsfrau Duncan möchte den Maulwurf in ihrem System finden“, sagte sie mit eisiger Stimme. „Ich soll alles tun, um Sie zu unterstützen. Einen anderen Auftrag habe ich nicht.“
„Dann also“, ergriff Max schließlich das Wort. „Wenden wir uns dem Selbstmord von Kenneth Vale zu.“
Sophia lud die Informationen auf ihren Organizer und schloss vorsichtig die Tür zu ihrer Vergangenheit, damit das Andere in ihr nicht geweckt wurde. „Er war für Aktien und Anleihen zuständig“, sagte sie und hielt sich an etwas fest, was sie verstehen konnte: Daten und Fakten.
„Welche Konsequenzen hatte sein Tod?“ Eine sachliche Frage, doch sein Ton hatte sich verändert, er klang wieder warm und verstörend intim in ihren Ohren.
Ihre Finger wurden feucht und rutschten ein wenig auf den Tasten ab. „Nikita hat Geld verloren, als sich die Nachricht von Vales Tod verbreitete. Selbstmord ist bei Medialen sehr selten, müssen Sie wissen“ – bei den meisten Medialen zumindest – „und wird allgemein für ein Anzeichen schwerer psychischer Erkrankung gehalten.“
Max’ nächste Worte trafen sie unvorbereitet. „Das ist aber nicht alles.“
Woher wusste er das? Sie sah sein klar geschnittenes Profil an, ihre Augen verharrten auf den Schläfen. Er war ein Mensch. Seine Akte bewies das unzweifelhaft – doch die Art, wie er die Gedanken von Verdächtigen lesen konnte, es gerade bei ihr getan hatte, machte ihr nochmals deutlich, dass sie sehr, sehr vorsichtig sein musste.
Falls er erkennen sollte, wie stark die Risse in ihrem Geist waren, falls er herausbekam, was das Andere getan hatte … Sie holte vorsichtig Luft. „Es hat nichts mit dem Fall zu tun.“
Der Blick, den er ihr zuwarf, war fordernd und ließ ihr keinen Ausweg.
„Selbstmord“, sagte sie schließlich, „wird unter manchen Umständen akzeptiert. Doch dann findet er in aller Stille statt und stört niemanden.“
„Selbstmord ist nie still und hat immer eine Wirkung.“ Seine Stimme war wie ein Peitschenschlag. „Das weiß ich, ich habe genug zerstörte Familien zu Gesicht bekommen. Aber … Mediale lieben nicht, nicht wahr?“
„Nein.“ Ihre Seele war leer, das Echo eines Nichts an einer Stelle, an der sich eine Familie oder zumindest irgendwelche Verbindungen befinden sollten, seien sie auch noch so unterkühlt. „Bei schwerem geistigen Verfall gibt es oft nur die Wahl zwischen Selbstmord und Rehabilitation.“
Selbstmord ist die bessere Wahl, Sophia.
Das hatte ein anderer J-Medialer zu ihr gesagt, zwei Wochen später hatte man ihn tot in einem Hotelzimmer aufgefunden, er hatte eine Überdosis Tabletten genommen.
Zumindest stirbt man dann ganz. Wenn sie dich holen, bleibt nur noch eine abscheuliche Kreatur zurück – die es nicht geben sollte.
8
Die Eltern haben die Minderjährige der staatlichen Fürsorge übergeben, da sie anscheinend nicht in der Lage ist, in einer normalen Umgebung zu leben.
– aus der Krankenakte von Sophia Russo,
minderjährig, Alter: 8
Max war seit über einem Jahrzehnt Polizist, er brauchte nicht lange, um einen Zusammenhang herzustellen. Starr den Blick auf die Straße gerichtet, versuchte er, die Vorstellung aus seinem Kopf zu vertreiben, dass Sophia sanft in die endgültige Nacht hinüberglitt; er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese starke und kluge Frau sich kampflos dem Tod ergab. „Sie glauben also, Selbstmord sei einer Rehabilitation vorzuziehen?“
„Ich glaube, es ist die Entscheidung eines jedes Einzelnen.“ Sie zögerte. „Aber wenn Sie wissen wollen, ob ich mich jemals so entscheiden würde, lautet die Antwort, nein.“ Sie tippte mit einem Laserstift auf den Organizer. „Möchten Sie jetzt über den zweiten verdächtigen Todesfall reden?“
Die Antwort hatte ihn überzeugt, er wandte sich wieder dem Fall zu. „Carmichael Jones“, sagte er. „Schwerer Herzinfarkt in seiner Suite während eines Treffens auf den Cayman-Inseln. Das Zimmermädchen hat ihn gefunden – der Pathologe hat festgestellt, dass er zu diesem Zeitpunkt mindestens schon zwei oder drei Stunden tot war.“
Sophia schwieg lange. „Haben Sie das alles im Kopf?“
„Ja.“ Die Frage überraschte ihn, er sah in tiefviolette Augen, die
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