Fesseln der Erinnerung
„Ich hätte es sicher überlebt, Sophia. Nennt Sie eigentlich irgendjemand Sophie?“
Sie mochte es nicht, dass er Max’ Kosenamen benutzte, verabscheute es dermaßen, dass sie sich sogar einen Augenblick fragte, ob ihr Gesicht ihm etwas verraten hatte, denn in Bonners blauen Augen glomm ein zufriedenes Leuchten auf.
„Nennen Sie mich, wie Sie wollen.“ Die gespielte Ruhe hatte jahrelang sämtliche Ärzte zum Narren gehalten. „Das Einzige, was mich interessiert, sind Ihre Erinnerungen.“
Ein weiterer Riss zeigte sich in der Fassade, einen Augenblick lang schien die hässliche Seite Bonners auf. „Dann holen Sie sich doch, was Sie brauchen, Sophie.“ Gemeinheit hinter Charme verborgen. „Nehmen Sie sich, weshalb Sie gekommen sind … dann werden Sie mir vielleicht auch sagen, wie Sie zu einem so hübschen Gesicht gekommen sind.“
Sie reagierte nicht und fühlte auch nichts. Seine Worte waren ihr egal – solange Max sie sah, sie kannte und akzeptierte. „Ich werde nicht blind in Ihrem Kopf auf Jagd gehen, Mr Bonner. Wenn Sie kooperieren wollen, dann tun Sie das. Wenn nicht, werde ich in meinen Abschlussbericht schreiben, dass Sie mit Ihrem Angebot, uns Informationen zu geben, nur unsere Zeit verschwendet haben, und man alle weiteren Angebote Ihrerseits ignorieren sollte.“
„Nutte.“ In demselben charmanten Tonfall, immer noch lächelnd. „Sind Sie noch an anderen Stellen Ihrer Haut gezeichnet? Oder ist der Rest blanke Leinwand, die noch auf den richtigen Künstler wartet?“
„Zum letzten Mal, Mr Bonner: Wollen Sie nun kooperieren oder nicht?“
„Aber selbstverständlich.“
Sie sah ihm weiter in die Augen und griff mit ihren einzigartigen telepathischen Fähigkeiten weit aus. Manche J-Medialen brauchten körperlichen Kontakt, um Zugang zu finden, sie hatte das nie nötig gehabt. Und seit sie sensitiv geworden war, führte Berührung sie zu tief in das Bewusstsein eines anderen, stellte eine zu starke Verbindung her. Und das wollte sie auf jeden Fall bei dem Psychopathen ihr gegenüber vermeiden.
Mühelos überwand sie die löchrigen Schranken der menschlichen Schilde und betrat Bonners Kopf. Alles war ruhig und geordnet wie immer … aber die Anordnung der verschiedenen Teile hatte sich verändert. Bonner schien seinen Erinnerungen eine neue Form gegeben zu haben, vielleicht damit sie besser zu seiner Sicht der Welt passten.
Das Gesicht einer schreienden Frau, der Körper im Schmerz verzerrt, das Blut lief ihr aus den Augen. Sophia krümmte sich innerlich, doch aufgrund des jahrelangen Trainings gelang es ihr, ihre Abscheu zu verbergen. „Wir wissen bereits, was Sie Carissa White angetan haben“, sagte sie. „Wenn Sie nicht mehr zu bieten haben – “
Ein kleine Lichtung im Wald, beinahe friedlich.
Sie spürte das Vibrieren der Schaufel in ihren Händen, als er/sie beide sie in die Erde stießen, lauschte der unheimlichen Stille, fühlte kaltes Plastik, als sie die Leiche in das flache Grab rollten. Bonner verlor keine Zeit damit, sein Opfer wieder einzupacken, seine Handlungen waren völlig unbeteiligt, als würden sie im Garten arbeiten. Der Körper hatte jede Bedeutung für ihn verloren, sobald ihm keine Schreie mehr zu entlocken gewesen waren. Bald bedeckte Erde die Plastikplane, und sie gingen zusammen durch den Wald, kamen nach weniger als fünf Minuten an einen unbefestigten, nebelverhangenen Weg.
Tannen umgaben sie – dunkelgrün mit dichtem Geäst –, die Spitzen verschwanden in dem feinen weißen Nebel. Auch das Unterholz war dicht und fast undurchdringlich, und ein paar dürre Bäume hatten sich hier und da angesiedelt. Also keine Baumschule, sondern ein natürlicher Wald. Sie stieg in einen Wagen, streifte die schweren Gartenhandschuhe ab und startete den Motor. Der Vierradantrieb hatte keine Mühe mit dem unebenen Boden, eine halbe Stunde später hatte sie den Nebel hinter sich gelassen und stand an einer Kreuzung, vor sich eine asphaltierte Straße. Ihr Herz schlug ganz ruhig, sie war entspannt. Es war –
Sophia bemerkte, dass sie sich in Bonner verlor und kämpfte sich zurück. „Ich brauche eine Ortsangabe.“ Sie sah nichts außer ab und zu einen anderen Wagen, der schnell vorbeiglitt – auf der einsamen Straße.
„Nur Geduld, liebste Sophia.“ Bonner atmete schwer, die Erinnerung erregte ihn … genauso wie die Tatsache, dass sie sie mit ihm zusammen erlebte.
Da sah sie es: Ein Schild zur Linken, das den Eingang zum „Nebeltal“ wies.
Sie notierte
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