Fesseln der Erinnerung
sich die Blumen, die sie gesehen hatte, den Sonnenstand, das Wetter, alles, was irgendwie hilfreich sein konnte.
Dann verschwammen Bonners Erinnerungen, ein buntes Kaleidoskop tauchte vor ihrem inneren Auge auf.
Darauf war sie vorbereitet gewesen und zog sich zurück, bevor es sie erreichen konnte. „Das ist nicht viel.“
„Sie werden sie schon finden.“ Er holte tief Luft. „Meine wunderbare Gwyn.“
Gwyneth Hayley war sechs Monate nach Carissa White verschwunden, und man war allgemein davon überzeugt, dass sie Bonners zweites Opfer war. Sophia versuchte, dem Schlächter noch weitere Informationen zu entlocken, aber er lächelte nur zufrieden und sagte, dass sie auch ein wenig selbst tun müsse.
Sie verließ ihn und begab sich in die Hände des M-Medialen. „Sie brauchen etwas Nahrhaftes“, sagte dieser als Erstes.
Sophia trank die bereitgestellten Energydrinks und ließ sich dann mit Max zusammen von Bart aus dem Untergeschoss zu einem Besprechungszimmer im ersten Stock führen. „Wenn Sie Ihre Schilde senken“, sagte Sophia, „kann ich das Ergebnis in Ihre Köpfe projizieren.“ Diese Fähigkeit unterschied sie von normalen Telepathen – sie konnte buchstäblich ganze Erinnerungen übertragen. Nur auf fünf Individuen auf einmal, aber außer Max befanden sich nur Reuben, der Wärter und ein Assistent Reubens in dem Raum. „Tut mir leid, Detective Shannon, aber Ihren natürlichen Schild kann ich nicht durchdringen.“
Max zuckte die Achseln. „Projizieren ist doch ziemlich anstrengend, nicht wahr?“ Er wartete nicht auf eine Antwort. „Warum fassen Sie das Gesehene nicht kurz für uns zusammen?“ Er sah sie durchdringend an. „Wenn Bonner wirklich bereit ist, mit uns zusammenzuarbeiten, kann es sein, dass Sie schon bald wieder zu ihm müssen.“
Er schützte sie. Ihr wurde das Herz so weit, dass sie fast davon überwältigt wurde. Sie holte tief Luft, hielt das Gefühl wie einen Schatz fest und berichtete, was sie erlebt hatte.
„Nebeltal“, sagte Max, der schon mit den Computerspezialisten der Polizei telefonierte. „Wie viele Treffer habt ihr?“ Kurze Stille. „Kreist es auf einen relativ abgelegenen Ort mit vielen Tannen ein – jedenfalls sah es dort vor fünf Jahren so aus –, vielleicht an einem Highway gelegen.“
Sophia hob die Hand. „Es war kalt, obwohl es nach dem Stand der Sonne um die Mittagszeit gewesen sein muss.“ Sie filterte in ihrem Kopf die vorbeifahrenden Autos und Bonners Gedanken aus und sah auf die andere Seite der Straße. „An der Stelle, wo er abgebogen ist, stand eine Tafel, auf der ein Erntefest angekündigt wurde.“
Max wiederholte die Hinweise für den Computerspezialisten und wartete ein paar Minuten. „Ich schulde dir einen Drink. Schick alles rüber nach D2, Station 3. Verschlüsselt bitte, falls jemand die Gefängnisleitung abhört.“ Er legte auf und sagte: „Es gibt drei Nebeltäler, zu denen die Beschreibung passt.“
„Der Weg war sehr uneben“, stellte Sophia fest. „Könnte sein, dass er gar nicht auf den Karten verzeichnet ist.“
„Wohl wahr.“ Max blickte finster. „Aber darum werden wir uns kümmern, nachdem wir uns die drei Aufnahmen angeschaut haben.“
Kurz darauf kamen die Bilder. Noch ehe Sophia überhaupt bewusst war, dass sie den Mund geöffnet hatte, rief sie: „Das ist es.“
Gwyneth Hayleys letzte Ruhestätte lag tief in den verschneiten Bergen.
26
Faith NightStar, Tochter von Anthony Kyriakus und mächtigste Hellsichtige der Welt, ging in den Wald. Sie hoffte, die frische Luft vor dem Heim, das sie mit ihrem Gestaltwandler-Gefährten teilte, würde den Nebel aus ihrem Kopf vertreiben. Feucht, klamm und undurchdringlich fühlte er sich beinahe real an – die innere Kälte brachte sie dazu, sich die Arme zu reiben.
„Etwas Schlimmes steht uns bevor“, sagte sie laut und versuchte, an der dicken, grauen Suppe vorbeizublicken, die alles einhüllte. „Feuer und Nebel, Schreie und das Klirren von Metall.“ Alles war miteinander verbunden. Der Nebel umgab das Zentrum, ebenso die Flammen und eine zerstörende Gewalt.
Faith ging unruhig auf dem weichen Nadelboden des Waldes hin und her, ihr drehte sich der Magen um, weil sie wusste, dass jemand sterben würde. Tränen schossen ihr in die Augen, brannten ihr in der Kehle. „Feuer und Nebel. Schreie und klirrendes Metall.“
Aber sooft sie auch diese Worte wiederholte, sooft sie auch versuchte, den Nebel zu durchdringen, sie gelangte immer wieder nur zu dem
Weitere Kostenlose Bücher