Fesseln der Erinnerung
niederdrückenden Gefühl eines gewaltigen Schreckens.
27
Das Böse existiert. Auch wenn es nicht in amtlichen Berichten auftaucht und als rein emotionales Konstrukt betrachtet wird, müsst ihr als J-Mediale akzeptieren, dass der Zeitpunkt kommen wird, an dem ihr etwas so abgrundtief Schlechtem gegenübersteht, dass alles, was ihr wisst oder an was ihr glaubt, infrage gestellt wird.
– Sophia Russo (J-Mediale) zu J-Aspiranten
(auf einem inoffiziellen Seminar an einem unbekannten Ort)
Vier Stunden nachdem Sophia den Ort gefunden hatte, stieg das Team, zu dem auch eine Einheit der Spurensicherung gehörte, im Forst des Nebeltals aus dem Wagen. Obwohl die Erde nicht mit Schnee bedeckt war, war die Luft eisig, und es sah nach Schnee aus.
„Nur Bart, Sie und ich“, sagte Max zu Sophia. „Wir gehen hin und sehen nach, ob wir etwas finden. Wenn nicht, schicken wir die Hunde.“ Es war gerade erst fünf, aber die Winterdämmerung brach schnell herein. Es wäre klüger gewesen, bis zum nächsten Morgen zu warten, aber ein unausgesprochener Gedanke einte sie: Sie konnten Gwyn nicht länger hier draußen in der dunklen Kälte liegen lassen.
Sophia nickte und übernahm die Führung. „Das Unterholz ist noch dichter geworden, seitdem Bonner damals hier war.“
„Zumindest ist der Weg noch zu erkennen“, sagte Bart und schob einen Ast zur Seite, als er und Max der kleineren Sophia folgten. „Schwer, mit der Toten durchzukommen, sollten wir sie finden.“
Max griff nach Sophias Arm, als sie über einen Stein stolperte. „Vielen Dank. Detective.“ Ihrer Stimme war nichts anzumerken, aber Max hatte das leichte Zittern ihrer Muskeln gespürt und wusste, dass nur schiere Willenskraft sie noch aufrechthielt.
„Kommt Ihnen etwas bekannt vor?“ Max ließ Sophias Arm los und trat zurück, ihm war bewusst, dass Bart sie anstarrte.
„Bis jetzt noch nicht.“
Bart stupste Max an und flüsterte: „Du weißt doch, dass Mediale keine Berührung mögen.“
„Sie mögen es aber wahrscheinlich genauso wenig, auf die Nase zu fallen.“
„Stimmt.“ Bart seufzte laut und schüttelte den Kopf. „Ich habe Gwyns Eltern noch nicht angerufen.“ Der Name ging dem Staatsanwalt leicht über die Lippen – wie Max war er mit dem kurzen Leben und den ungelebten Träumen jedes einzelnen Mädchens sehr vertraut.
„Ich auch nicht“, sagte Max und sah Gwyns Lächeln vor sich und die langen Beine der Läuferin. Sein Zorn hatte sich in all den Jahren kaum gelegt. „Hat keinen Sinn, alte Wunden aufzureißen, solange wir ihnen nicht ein wenig Frieden verschaffen können.“
Sophia ließ sich nicht beirren, sie betrachtete nachdenklich einen knorrigen alten Baum am Ende des Pfades. „Den habe ich in den Erinnerungen gesehen.“ Kaum mehr als ein Flüstern.
Max behielt sie im Auge, als sie den Weg verließ und ins Unterholz eintauchte. Nach weniger als fünf Minuten sprang sie nach links auf einen umgestürzten Baumstamm. Kletterte aber nicht auf die andere Seite. Max stellte sich rechts neben sie, Bart an ihre linke Seite.
Sie mussten nicht fragen, was Sophia entdeckt hatte.
„Als sei das Land selbst gestorben“, sagte sie, den Blick auf die tote Erde vor ihnen gerichtet, braun und trocken wie Staub, obwohl um sie herum Grün spross und das Herz des Waldes schlug.
Als sei das Blut von Gwyneth Hayley in die Erde gesickert und habe sie an dieser Stelle unfruchtbar gemacht.
Die Leute von der Spurensicherung arbeiteten im Licht der Scheinwerfer bis spät in die Nacht. Um Mitternacht hatten sie erst sieben Knochen gefunden, die anderen waren wahrscheinlich von Tieren fortgeschleppt worden. Einer der sieben Knochen war jedoch der Schädel mit dem vollständigen Gebiss.
Der sofortige Zahnabgleich brachte ein positives Ergebnis.
Sophia sah, dass Max’ Schultern nach diesem Bescheid kurz zitterten und er sie dann hängen ließ. „Ich mach das“, sagte er tonlos zu Bart Reuben.
Barts Gesicht durchzogen tiefen Linien, in seinen Augen stand alter Schmerz, als er zustimmte. „Dir vertrauen sie mehr.“
Nachdem der Staatsanwalt an ihr vorbei zu der Fundstelle gegangen war, stellte sich Sophia zu Max, der ein Stück von den anderen entfernt im Schatten eines großen Baumes mit breiter Krone stand. „Du willst die Familie anrufen?“
Er nickte, wirkte zornig und zugleich besorgt. „Ich würde ihnen die Nachricht lieber persönlich übermitteln, aber ich möchte gerne, dass sie es erfahren, bevor die Medien Wind davon bekommen.“
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