Fesseln der Leidenschaft
seine Haube zurückstreifte und näher gekommen war. Gilbert mußte ihn wohl vorgestellt haben, ehe er diskret verschwand, aber Reina hatte in ihrer Verwirrung kein Wort verstanden.
Goldenes Haar und eine ebensolche Haut, tiefviolette Augen, das gleiche Gesicht – Ranulfs Gesicht, aber der Mann war nicht Ranulf. Vielleicht sein Bruder? Nein, er hatte gesagt, sein Bruder sei jünger. Dieser Riese war älter, wenn auch nicht viel. Eigentlich wirkte er nicht alt genug, um Ranulfs Vater zu sein, und doch gab es wohl keine andere Möglichkeit. Allerdings kein liebender Vater. Reina erinnerte sich genau an das, was Ranulf über diesen Menschen erzählt hatte.
»Es ist in Ordnung, Lady Reina. Diese Wirkung erlebe ich oft bei Frauen.«
Diesen Satz sagte er gewiß routinemäßig, um die Verlegenheit der Damen zu mildern, die bei seinem außergewöhnlichen Anblick taub, blind und stumm wurden. Doch diesmal irrte er sich, was den Grund betraf, und Reinas Schock war verständlich. Man traf nicht jeden Tag ein älteres Ebenbild des Mannes, den man geheiratet hatte.
»Sind Sie hier, um Ranulf zu sehen?«
»Ranulf?« Nun war er an der Reihe, verwirrt zu sein, doch gleich darauf lächelte er verständnisvoll. »Deshalb waren Sie so überrascht – die Ähnlichkeit! Sie ist unheimlich, nicht wahr?«
»Ja, sehr.« Sie konnte es noch immer nicht glauben, daß zwei Männer verschiedenen Alters so gleich aussehen konnten.
»Aber ich wußte gar nicht, daß Ranulf sich in dieser Gegend aufhält. Letztens hörte ich, daß er für einen Lord kämpfen würde. Allerdings war das vergangenes Jahr, und er bleibt ja nicht gern lange an einem Ort.«
Woher wußte der Mann das? Laut Ranulf hatten die beiden nur zweimal in ihrem Leben zusammen gesprochen.
Wollte der Mensch eine familiäre Bindung und väterliches Interesse vortäuschen?
»Das mag wohl früher so gewesen sein, aber momentan wird er Clydon nicht so schnell verlassen«, erklärte Reina steif.
Den Mann schien ihr Verhalten zu erstaunen, doch seine Neugierde überwog. »Clydon und der dazugehörige, umfangreiche Besitz sind mir wohlbekannt, Lady Reina, aber ich habe nicht gehört, daß Sie so in Schwierigkeiten stecken, daß Sie die besonderen Fähigkeiten meines Sohnes in Anspruch nehmen müssen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß Sie den besten Kämpfer engagiert haben.«
War das echter Stolz, der aus seiner Stimme klang? Mit welchem Recht war er stolz auf einen Sohn, den er im Stich gelassen hatte?
»Wir sind natürlich dankbar für Ranulfs außergewöhnliche Talente, mein Lord, aber ich fürchte, Sie erliegen einem Mißverständnis. Ich habe Ranulf nicht engagiert, ich habe ihn geheiratet. Er ist der neue Lord von Clydon.«
Reina fühlte sich nicht mehr so töricht wegen ihres vorherigen Schocks, als sie nun den seinen beobachtete. Der Mann betrachtete sie lange Zeit sprachlos, ehe er den Kopf zurückwarf und lachte.
»Zweifeln Sie an meinen Worten?« fragte sie hochfahrend.
Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete. »Nein, keineswegs. Ich wußte immer, daß Ranulf es zu etwas bringen würde, aber ich hätte nie gedacht, daß er mich noch überträfe. Wenn er hier ist, würde ich ihn wirklich gern sehen.«
»Aber deshalb sind Sie nicht gekommen. Was führt Sie her, mein Lord?«
»Mein Gepäckkarren verlor hier ganz in der Nähe ein Rad. Ich wollte mir Ihren Schmied borgen und Ihnen einen Besuch abstatten, während die Reparatur erledigt wird. Aber würden Sie mir bitte sagen, warum Sie so abweisend sind?«
»Abweisend? Ich dachte, ich sei ausgesprochen unhöflich, aber wenn Sie es so nennen wollen … «
Er lachte schon wieder, anstatt verärgert zu sein, was Reina eigentlich erwartet hatte. Es war tatsächlich nicht einfach, Vater oder Sohn zu beleidigen. Nun war es ihr peinlich, es versucht zu haben. Der Mann war schließlich ein Gast unter ihrem Dach, wenn auch ein ungebetener. Er verdiente ihre Feindseligkeit nicht für Taten aus der Vergangenheit, die nichts mit ihr zu tun hatten. Vielleicht war Ranulf sogar froh, ihn zu sehen? Es wäre der Teufel los, wenn Reina den Besucher verjagte, ehe Ranulf die Gelegenheit haben würde, sich so oder so zu entscheiden. Alles in allem hatte sie sich abscheulich gegen einen Mann benommen, den sie nicht einmal kannte. Wie war sein Name? Himmel, ihn jetzt zu fragen, wäre eine weitere Beleidigung.
»Ich muß mich entschuldigen … «
»Nein«, unterbrach er sie, noch immer lächelnd. »Ich mag Ihre Art, Lady. Ihr
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