Fesseln der Leidenschaft
Reina hätte ihm für sein Schweigen am liebsten einen Tritt versetzt. Wenn er keine Fragen hatte – sie wollte noch einiges wissen.
»Warum hätte Ihr Vater das alles tun sollen?«
»Ich kann es nicht sagen, Lady, und seine Gründe starben vor einigen Jahren mit ihm. Vielleicht hörte er erst viel später von Ranulfs Geburt … «
»Nein«, warf Ranulf ein. »Meine Mutter beichtete es ihm, und wegen ihrer Schwangerschaft verheiratete er sie mit dem Dorfschmied.«
»Und fast die Hälfte aller Dorfbabys stirbt im ersten oder zweiten Jahr«, erklärte Reina. »Könnte er Ihnen die Geburt verschwiegen haben, um Ihnen den Schmerz des Verlustes zu ersparen, falls Ranulf nicht überlebt hätte?«
»Lady, hätte ich von Ranulfs Geburt gewußt, wäre er in unserem Haus mit aller Sorgfalt großgezogen worden. Ich weiß einfach nicht, warum mein Vater ihn den Leibeigenen überlassen hat.«
»Mein Gott«, wisperte Reina, die sich an einen anderen Fall erinnerte, in dem das Kind den Leibeigenen übergeben worden war, um es sterben zu lassen. Sie sah Ranulf an und überlegte, ob er an den gleichen Vorfall dachte und vielleicht argwöhnte, sein Vater habe gehofft, er würde sterben. Es war besser, diesen Punkt nicht zu erwähnen, aber Hugh hatte ohnehin noch etwas vorzubringen.
»Ich kann mir nur einen Grund denken, warum er mir die Tatsachen vorenthielt. Ich hatte noch einen leiblichen Sohn, dessen Mutter aus einer äußerst mächtigen Familie stammte. Sie ließen mich die Lady nicht heiraten. Sie war bereits verlobt. Aber sie zwangen mich, ihren Sohn als meinen Erben einzusetzen.«
»Zwangen?«
»Das Zugeständnis wurde mir bei der Geburt des Jungen abverlangt. Mein Vater wirkte dabei mit, denn andernfalls hätten die Leute uns den Krieg erklärt, und mein Vater konnte sich zu der Zeit keinen solchen Krieg leisten.«
»Aber Sie waren noch so jung«, meinte Reina. »Man erwartete doch sicher, daß Sie heiraten und legitime Kinder haben würden.«
»Ja, aber dennoch mußte ich für den Sohn der Lady sorgen. Dann brauchte deren Anhang sich finanziell nicht zu engagieren, und unsere Familien waren inoffiziell verbündet, was meinen Vater entzückte. Vielleicht hat er aus diesem Grund mir und auch Lady Ellas Familie Ranulfs Existenz verschwiegen.«
»Ella?« Reina blickte Ranulf scharf an. »Ella?« Sein seltsamer Gesichtsausdruck reizte sie zum Lachen.
Hugh verstand ihre Heiterkeit nicht. »Kennen Sie die Lady?« fragte er Reina.
»Nein, mein Lord, aber mit ihrer Namensvetterin bin ich gut bekannt.« Ranulf brummte, und das wischte das Grinsen von ihren Lippen. »Das hat nichts mit unserem Thema zu tun. Warum erzählte Ihr Vater Ihnen schließlich von Ranulf?«
»In jenem Sommer war ich nach mehrjähriger Abwesenheit zu Hause. Der Hof reiste umher, und meine Frau glaubte, sie sei schwanger, also hatte ich keine Eile, wieder aufzubrechen. Ranulf war mir inzwischen so ähnlich geworden, daß ich ihn beim ersten Blick als meinen Sohn erkannt hätte.«
»Also fürchtete Ihr Vater, Sie würden ihn plötzlich von selbst entdecken und möglicherweise argwöhnen, der alte Herr habe Sie hintergangen. Indem er Ihnen schwor, er sei ebenso überrascht wie Sie, vermied er das Aufkommen jeden Verdachts.«
»Das muß ich wohl annehmen.«
»Aber warum sorgte er für eine Kluft, nachdem Sie von Ihrem Sohn wußten?«
»Auch hier kann ich nur vermuten, Lady, daß er das Entstehen einer Bindung nicht wünschte.«
»Haben Sie eine Beziehung zu Ihrem anderen Sohn?«
»Nein.« Hugh seufzte. »Ellas Familie zog ihn groß, und er gleicht mir überhaupt nicht. Manchmal frage ich mich sogar, ob er wirklich von mir stammt. Und dennoch ist er mir näher als Ranulf, denn Ranulf ließ mich nie an sich herankommen.«
»Können Sie ihm das verübeln? Wie ich Sie verstanden habe, mein Lord, ist das jetzt das dritte Mal in seinem Leben, daß er mit Ihnen spricht. In den ersten neun Jahren seines Lebens dachte er, Sie wollten ihn nicht haben. Während all der Jahre seines Trainings besuchten Sie ihn nie und ließen ihn auch nie zu sich kommen. Wenn man das bedenkt, versteht man doch, daß er Ihre Aufrichtigkeit bezweifelt. Ich bezweifle sie ebenfalls.«
Diesmal blickten beide sie mit gefurchter Stirn an. Das war übel. Ranulf stellte keine Fragen, aber sie wollte alles herausbekommen, was Hughs Behauptungen stützen konnte. Wenn sein Sohn ihm wirklich lieb war, hätte er die Entfremdung zwischen ihm und sich schon vor langer Zeit beenden
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