Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fesseln der Sehnsucht

Fesseln der Sehnsucht

Titel: Fesseln der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
Vom Netzwerk:
zur Tür schlenderte. Der hitzköpfige junge George Peabody konnte nicht an sich halten, ihm ein Schimpfwort hinterherzurufen.
    Heath blieb stehen, drehte sich über die Schulter und maß den Burschen mit einem langen Blick. Bevor er zu einer Entgegnung ansetzte, hatte Lucy sich dem Jungen entrüstet zugewandt. »George Peabody, wirst du wohl dein loses Mundwerk zumachen!«
    »Zuvor sollte er sich die Hosen zumachen«, meinte Heath selenruhig, tippte mit dem Finger an die Hutkrempe und verließ den Laden.
    Wie auf Kommando blickten alle auf Georges Hosenschlitz, an dem tatsächlich ein Knopf offen stand. Die Spannung wich, als der Junge sich mit hochrotem Kopf zur Wand drehte, um seine verletzte Würde wieder herzustellen. Alle lachten. Selbst Daniel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Unverschämter Rebell«, murmelte er und erntete zustimmendes Nicken.
    Der Grund der regelmäßigen Zusammenkünfte in den Salons der Bürger von Concord waren Vorträge über die Bemühungen der Reconstruction, über die man im Anschluss objektiv, vernünftig und vorurteilslos zu diskutieren beabsichtigte. Wie jedermann wusste, verliefen diese Debatten keineswegs objektiv, nur selten vernünftig und niemals ohne Vorurteile. Dennoch waren die hitzig geführten Diskussionsabende, die nur Männern vorbehalten waren, gut besucht. Damen, die daran teilzunehmen wünschten, durften im Hintergrund sitzen und schweigend zuhören. Angesehene Bürger wie der in seinen Ausführungen weit ausholende Schriftsteller Bronson Alcott und der philosophisch fundierte Dichter Ralph Waldo Emerson tauschten ihre Gedanken und Meinungen über den Krieg und die Bemühungen der Regierung zur Wiedergutmachung mit den Bürgern von Concord aus. Diesmal fand das Treffen in Caldwells Salon statt, der die Zahl der Teilnehmer kaum fassen konnte.
    Lucy sah in der Küche nach dem Rechten, als der Vortrag bereits begonnen hatte. Rasch stellte sie den Wasserkessel auf den blank geputzten Gusseisenherd um die trockene Luft ein wenig mit Wasserdampf zu befeuchten, und warf einen prüfenden Blick auf die Tabletts mit Teegebäck, die später herumgereicht werden sollten. Zufrieden glättete sie die rüschenbesetzte Musselinschürze und öffnete leise die Tür zum angrenzenden Salon. Bronson Alcott stand vor seiner im Halbkreis sitzenden Zuhörerschaft. Umwallt von einer schulter langen grauen Haarmähne hielt er redegewandt seinen Vortrag, den er mit gemessenen Gesten seiner großen Hände unterstrich.
    Lucy blieb im dunklen Türrahmen stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. In der hinteren Reihe saß ihr Vater, der einen Blick auf die Taschenuhr warf und vermutlich schon darauf wartete, wann das Teegebäck gereicht wurde. Daniel saß in der ersten Reihe mit übergeschlagenen Beinen, die gefalteten Hände auf dem Knie, und lauschte dem Redner mit gebannter Aufmerksamkeit. In der entfernten Ecke des Raums lümmelte Heath Rayne im Schatten, die Arme lässig vor der Brust verschränkt, in einer Haltung, die Langeweile zum Ausdruck brachte.
    Lucy aber vermutete, dass er den Vortrag aufmerksam verfolgte.
    Sie fragte sich, wieso er – als einziger Südstaatler – an Vorträgen über die Reconstruction teilnahm. In Concord gab es zwar vereinzelte Stimmen, die dem Süden in Fragen der Wiedereingliederung gewisse Sympathien entgegenbrachten. Dennoch war Heath Rayne ein Außenseiter, das wusste er ebenso gut wie alle anderen im Raum.
    Seine Anwesenheit hatte sich auf die ersten Treffen zu diesem Thema geradezu hemmend ausgewirkt. jeder Teilnehmer hatte erwartet, er würde jeden Moment mit einem Rebellenschrei aufspringen und eine Prügelei anzetteln; doch bislang hatte er jede Diskussion schweigend verfolgt und mittlerweile schien man seine Gegenwart, beinahe vergessen zu haben. Er kam, tauschte höfliche Belanglosigkeiten mit den Herren aus, die es wagten, das Wort an ihn zu richten, hörte sich stumm den Vortrag an und ging, als sei er ein Beobachter, den der Krieg und seine Folgen nicht weiter interessierte. Lucy begriff nicht, welche Beweggründe ihn zur Teilnahme bewogen, und tröstete sich mit dem Gedanken, dass niemand ihn verstand.
    »… und jenen Kritikern, die behaupten, der Konflikt sei auch in der Retrospektive nicht als Auseinandersetzung zwischen Recht und Unrecht zu betrachten«, führte Alcott aus, »rate ich dringend, sich das Unrecht der Sklaverei vor Augen zu führen. Menschen, die für die Sklaverei eintreten, verdienen keine Sympathie und

Weitere Kostenlose Bücher