Fesseln der Sehnsucht
Scharfschütze – das könnten ein paar hundert Rebellen bestätigen, wenn sie noch am Leben wären.«
Heath schien unbeeindruckt von seinem Hohn. »Wenn Sie meinen. Dann schaue ich eben nur zu. Lassen Sie sich durch mich nicht stören.«
Dabei hatte er bereits den ganzen Nachmittag gestört, darin waren sich alle einig. Das Wettschießen, bisher ein unbeschwertes sportliches Vergnügen, drohte zu einem ernsthaften Kampf auszuarten.
»Nein. Nur zu. Bitte«, lud Daniel ihn zur Teilnahme ein. Um seinen Mund lag ein höhnischer Zug, der sein Gesicht verzerrte, wie Lucy befremdet feststellte. »Nein, tu es nicht«, hauchte sie tonlos, als David Fraser die Flinte an Daniel aushändigte und sich respektvoll zurückzog. Die Männer, die bisher lärmend gescherzt hatten, waren still geworden und lauerten in gespannter Erwartung. Lucy wusste gar nicht, dass sich ihre Finger in Sallys Arm krallten, bis die Freundin sich ihr mit einem Wehlaut und einem tadelnden Blick entzog. Die kreidebleiche Lucy hatte nur Augen für das, was sich zwischen den beiden Männern abspielte. Sie konnte nicht fassen, dass Heath es gewagt hatte, Daniel herauszufordern, und Daniel die Herausforderung annahm.
»Ein paar Übungsschüsse?«, fragte Daniel mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Nein, danke.«
Die Blechdosen wurden wieder aufgestellt, während Daniel die Flinte lud und Heath einen flüchtigen Blick zuwarf.
»Können Sie überhaupt mit einer Spencer umgehen? Sie ist nicht mit den Vorderladern zu vergleichen, mit denen ihr Rebellen gekämpft habt.« Spencer-Gewehre waren hochmoderne Waffen, die sich die Konföderiertenarmee nicht leisten konnte – so modern und schnell, dass die Unionsgeneräle zunächst Bedenken hatten, sie einzusetzen, weil sie fürchteten, die Truppen würden zu viel Munition verschwenden und zu schnell schießen ohne sorgfältig zu zielen.
»Ich denke, ich komme damit zurecht.« Heath schlenderte zu den Männern hinüber, nahm Aufstellung und beäugte die aufgereihten Blechbüchsen. »Ich finde, wir sollten die Entfernung auf zweihundert Meter erhöhen«, schlug er vor. Die Männer murmelten untereinander. Was immer man gegen den Konföderierten einzuwenden hatte, sein Mut grenzte an Tollkühnheit.
Die Zuschauer wichen von der Schusslinie zurück. Einige Männer lehnten sich an den Felsen, auf dem Lucy und Sally kauerten, und blickten zu den beiden Wettschützen hinüber, die fünfzig Meter abschritten. Daniel hob die Flinte und zielte. Er stand kerzengerade und konzentriert, als sein Finger sich um den Abzug krümmte. Ein Schuss nach dem anderen krachte, alle Dosen wurden durch die Luft geschleudert. Die Zuschauer wagten wieder zu atmen, die Spannung löste sich und die Freunde beglückwünschten Daniel, den Meisterschützen.
Lucy war hin und her gerissen zwischen Stolz auf Daniels Leistung und Mitleid für Heath. Niemand konnte so schießen wie Daniel und Heath war im Begriff, sich vor Daniel und seinen Freunden lächerlich zu machen. Sie wünschte, seine Blamage nicht mit ansehen zu müssen. Eine Welle beschützender Fürsorge durchströmte sie, als sie zusah, wie Heath die geladene Spencer entgegennahm und die Finger spielerisch über den Gewehrkolben gleiten ließ. Wieso in aller Welt musste er sich diesem ungleichen Kampf stellen?
Er stand mit leicht gespreizten Beinen da, schob die linke Schulter vor und hob die Flinte. Lucy wunderte sich über die Lässigkeit seiner Haltung. Man hätte geradezu meinen können, er nehme die Sache nicht sonderlich ernst. Sie erschrak, als der erste Schuss krachte – Heath hatte sich kaum Zeit genommen, sein Ziel sorgfältig anzuvisieren!
Die nächsten Schüsse krachten in schneller Folge hintereinander. Nach dem siebten Schuss wandte Heath den Kopf und sah zu Lucy herüber. Ihre Blicke verschmolzen für einen Moment ineinander.
»Heilige Mutter Gottes«, hörte Lucy eine tonlose Männerstimme. Sie zwang sich, den Blick zum Baumstamm zu wenden. Alle Blechdosen waren weggeschossen. Unter den Zuschauern herrschte tiefe Stille.
»Unentschieden«, entfuhr es Lucy mit zitternder Stimme.
Heath’ Augen blieben unverwandt auf sie gerichtet. »Heißt das, wir bekommen beide einen Kuss?«, fragte er neugierig und Lucy staunte über seine Kaltblütigkeit.
»Das heißt nur, keiner hat gewonnen«, entgegnete sie und wünschte, ihm gehörig die Meinung sagen zu können, sie und Daniel dieser peinlichen Situation auszusetzen.
»Der Kampf ist noch nicht zu Ende«, erklärte
Weitere Kostenlose Bücher