Fesseln der Sünde
Tagen hatte sich ein seltsamer Umstand an den anderen gereiht, bis sie das Gefühl bekommen hatte, ihr Kopf würde gleich explodieren.
Sie hatte gestern den Antrag des Mannes angenommen, den sie liebte. Der sie aber ganz und gar nicht liebte. Und der beabsichtigte, ihr die Freiheit zu gewähren, das Bett mit einem anderen Mann zu teilen. Nachdem er sich ihres Körpers bedient hat.
Einmal.
Heute Nacht.
Sie legte zitternd eine Hand auf ihren rumorenden Bauch. Das flaue Gefühl in ihrer Magengrube stammte nicht von der Seekrankheit, sondern von ihren flatternden Nerven.
Dorcas hatte ihr ein Kleid aus grobem Stoff und einen dicken, roten Wollumhang geliehen, die eher praktisch als schön waren. Das Dorfmädchen, das verkleidet nach Gretna aufgebrochen war, trug ein wunderschönes smaragdfarbenes Samtcape, das einmal Gideons Mutter gehört hatte. Sie und der große, dick eingemummte Mann, der sie begleitete, waren gestern Abend mit großem Aufheben abgefahren.
Das Abendessen war angespannt und schweigend verlaufen. Danach hatte Gideon sie nach oben geschickt, um noch ein paar Stunden zu schlafen, bevor sie im Schutz der Dunkelheit Penrhyn verließen. Doch sie lag die ganze Zeit wach, bemüht darum, sich mit ihrer traurigen Zukunft abzufinden.
Das Schicksal gewährte ihr ihren sehnlichsten Wunsch und zerstörte dennoch all ihre Hoffnung. Mit einem Schlag.
Gideon und sie begaben sich noch vor Mitternacht auf den geheimen Weg hinunter zum Strand. Er ruderte mit einem kleinen Boot über die Brecher, wo Tulliver und William, einer der Dorfbewohner, auf sie warteten, um sie mit dem Segelboot nach Jersey zu bringen.
Von da ab hatte sie die Geschwindigkeit ihrer Reise verblüfft. Das Wetter meinte es gut mit ihnen, sodass ihre Hochzeit ohne Verzögerung stattfinden würde. Der feige Teil ihrer selbst wünschte sich, die Reise würde nie vorübergehen.
Sie strich einige Strähnen ihrer fest geflochtenen, rund gesteckten Zöpfe beiseite, die sich durch den Wind gelöst hatten, und schaute zurück zu Gideon. Wie ein Pirat stand er am Ruder. Wie Black Jack. Sein Haar wehte ihm wild ums Gesicht. Sein Blick war starr auf den Horizont gerichtet und sein weißes Hemd durch die Brise aufgebläht. Sie hatte ihn noch nie zuvor so glücklich und in seinem Element gesehen.
Tulliver stand neben ihm, William saß in der Nähe des Hecks des offenen Bootes. Nach der Hochzeit würden die beiden Männer das Schiff wieder zurück nach Penrhyn bringen.
Sie war überrascht, wie selbstverständlich Gideon mit dem Boot umging. Obwohl sie sich das hätte denken können. Er war an der Küste groß geworden, und das Blut von Black Jack Trevithick floss in seinen Adern.
Gab es etwas, was er nicht konnte?
O ja, es gab etwas - er konnte sich wohl nicht dazu durchringen, mit seiner Frau zusammenzuleben.
Bei dem bitteren Gedanken wandte sie den Kopf wieder ab, blickte nach vorne und sah, wie sie sich dem Kai näherten. Ihrer Stimmung nach hätte es in Strömen regnen müssen, doch der Himmel war klar, und die Wellen glitzerten im Sonnenlicht und plätscherten vor sich hin. Es war immer noch Nachmittag, und somit blieb ihnen noch viel Zeit, um am gleichen Tag zu heiraten.
Danach müsste sie sich über den Rest ihres Lebens klar werden.
Gott stehe ihr bei.
Charis stand verwirrt neben Gideon, während ein pausbäckiger Pfarrer die Trauungsworte herunterleierte.
Gideon trug seinen dunkelblauen Mantel und war nach der neuesten Mode gekleidet. Er sah wie der Traumprinz aller Mädchen aus. Groß, attraktiv und offenkundig besorgt um das Wohlergehen seiner Braut. In Dorcas’ billigem, rosafarbenem Kleid und der Haube aus Stroh mit den farblich passenden Bändern fühlte sich Charis wie eine Dienstmagd. Weiß der Himmel, was der Geistliche von einem solch ungleichen Paar dachte.
Sie hielt einen zerfledderten Blumenstrauß in ihren behandschuhten Händen. Tulliver hatte in ihr zu ihrem Erstaunen, kurz bevor der Pfarrer das Hotelzimmer betreten hatte, in die Hände gedrückt.
Diese unerwartete Freundlichkeit hatte beinahe die Taubheit, die sie befallen hatte, seit sie vom Boot gestiegen war, gelindert. Sie hatte den Nachmittag über kaum gesprochen und war sich wie eine Schlafwandlerin vorgekommen, während Gideon nach einer Unterkunft gesucht und die Hochzeit vorbereitet hatte. Wenn ein solch trauriges, schäbiges Ereignis diesen Namen überhaupt verdiente.
Sie durfte sich nicht hinreißen lassen, darüber nachzudenken oder etwas zu fühlen.
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