Fesseln des Herzens
den Grund, der sie sofort in Unruhe versetzte.
Ein junger Wolf hatte sich auf die Weide geschlichen. Eigentlich bedeutete dies, dass noch andere Wölfe in der Nähe waren, aber bislang konnte Aimee keine weiteren Graupelze ausmachen. Offenbar war dieses langbeinige, etwas schlaksig wirkende Tier ein Einzelgänger, oder es war zu unerfahren, um zu wissen, dass die Jagd im Rudel ertragreicher war.
Was auch immer den Wolf zu ihren Schafen getrieben hatte, es hielt ihn jedenfalls nicht davon ab, einem der Lämmer nachzustellen. Dessen Mutter versuchte, sich ihm mit gesenktem Nacken entgegenzustellen, aber der Wolf wich dem Schaf geschickt aus und jagte weiter hinter dem Lamm her.
Im gleichen Augenblick wie Aimee setzten sich auch ihre Hütehunde in Bewegung. Noch im Laufen riss die junge Schäferin ihren Hirtenstock hoch. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich mit einem Wolf anlegen musste. Einmal hatte sie einem riesigen grauen Tier gegenübergestanden, einem steinalten Wolf, der nur noch ein Auge gehabt hatte. Greydevil lautete der Name, den ihm die Leute hier gegeben hatten. Aimee hatte Glück gehabt, dass er sich von ihrem Knüppel und den Hunden abschrecken ließ, hätte er sie angesprungen, wäre sie sicher nicht mehr am Leben gewesen.
Als nicht einmal die bellenden Hirtenhunde den Wolf zu vertreiben vermochten, stellte sich Aimee ihm entgegen. Da er auch an ihr vorbeilaufen wollte, versetzte sie dem Tier mit dem Stock einen Schlag auf den Rücken. Der Wolf jaulte zwar kurz auf, setzte danach aber keineswegs zur Flucht an, sondern wandte sich Aimee entgegen. Seine Augen leuchteten zornig, und Geifer tropfte ihm von den Lefzen. Hatte er etwa die Tollwut?
So oder so durfte sie das Tier nicht allzu dicht an sich herankommen lassen. Sie blickte dem Wolf einen Moment lang unerschrocken in die Augen, dann schlug sie erneut nach ihm. Wieder traf sie, doch der Wolf warf sich ihr daraufhin entgegen. Beinahe hätten seine Zähne ihre Haut gestreift, aber Aimee schaffte es noch rechtzeitig, seinem Angriff auszuweichen. Der Vorstoß des Wolfes ging ins Leere, und bevor er sich ihr wieder zuwenden konnte, hatte ihm die junge Frau den dritten Schlag versetzt. Diesmal traf sie ihn an einer empfindlicheren Stelle, und der Wolf jaulte klagend, doch noch immer war die Verlockung durch die Lämmer größer als seine Furcht.
»Na, was ist, willst du noch mehr Saures?«, schrie Aimee ihn an. Ihr gesamter Körper zitterte vor Kampfeslust, und ihre Brust hob und senkte sich unter den heftigen Atemzügen. Dass Schweiß von ihren Schläfen rann, bemerkte sie gar nicht.
Der Wolf wandte sich um, aber anstatt sich ihr erneut entgegenzuwerfen, blickte er sie nur an und knurrte.
Diesem Laut konnte schnell wieder ein Angriff folgen, das wusste Aimee nur zu gut. Also machte sie sich bereit, auf einen neuerlichen Vorstoß zu reagieren.
Im Eifer des Gefechts hätte sie beinahe das leise Surren überhört, das gefährlich nah ertönte. Im nächsten Augenblick sauste ein Bolzen an ihr vorbei und bohrte sich in die Schulter des jungen Wolfes. Das Tier jaulte auf und suchte dann das Weite. Aimee wirbelte erschrocken herum.
Sie hätte nicht erwartet, an diesem Morgen auf die Garde des Barons zu treffen. Die Männer standen ein Stück weit von ihr entfernt auf der Weide. Der Mann, der geschossen hatte, musste über Adleraugen verfügen!
Rasch rückte sie ihr grobes Leinenkleid zurecht, umklammerte ihren Hirtenstab und setzte einen unerschrockenen Blick auf.
»Ziemlich mutig von dir, dich mit einem Wolf anzulegen«, bemerkte der Mann, der an der Spitze ritt. Aimee hatte ihn ein paar Mal im Dorf gesehen. Es war Henry Fellows, der Hauptmann des Barons of Ravencroft. »Hoffentlich traktierst du deinen Mann nicht auf gleiche Weise.« Er schob seine Armbrust mit einer geübten Bewegung in die dafür vorgesehene Sattelhalterung zurück.
Aimee entging nicht, dass er trotz seiner ruhig klingenden Worte fahrig wirkte. Mit beiden Händen hielt er sich an seinen Zügeln fest, so dass die Knöchel schon ganz weiß waren. Und obwohl er es zu verbergen versuchte, bemerkte die Schäferin, dass ein Zittern durch seine Glieder rann, als stünde ihm ein todbringender Kampf bevor. Was war nur mit ihm los?
»Keine Sorge, Sir, ich habe keinen Mann und brauche auch keinen«, entgegnete die Schäferin keck.
»Oho, du hast offenbar ein ziemlich scharfes Mundwerk«, gab Fellows zurück und versuchte, seine Unruhe weiter zu bezwingen. »Hoffentlich bist du in
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