Fesseln des Herzens
anderen Künsten genauso gut bewandert.«
Fellows blickte zu dem jungen Mann, der neben ihm ritt und der, wie seine Kleider verrieten, kein Soldat war.
»Guten Morgen, Aimee«, sagte dieser nun ein wenig zaghaft.
Die Schäferin kannte ihn. Erst vor kurzem hatte sie seiner Frau beigestanden. »Guten Morgen, John. Wie geht es deinem Weib und dem Kleinen?«
»Es geht ihnen gut, danke der Nachfrage.« Er atmete tief durch, als brauche er für das, was er jetzt sagen wollte, besonders viel Luft. »Der Baron schickt uns. Ihr sollt unverzüglich zu ihm kommen … Sein neues Weib kommt nieder.«
»Dafür hat er doch seinen Leibarzt«, entgegnete Aimee misstrauisch.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die Geschichten, die man sich im Dorf vom Vater des Barons erzählt hatte. Er hatte die Angewohnheit gehabt, stümperischen Hebammen die Hände abzuhacken.
Seinem Sohn war ebenfalls ein Weib bei der Geburt gestorben, doch zum Glück war die Hebamme ungeschoren davongekommen. Allerdings war Ravencroft damals noch jung und hatte sicher die Hoffnung gehabt, bald ein weiteres Kind zu bekommen. Mittlerweile konnte sich das geändert haben.
Wenn der hohe Herr durch mich Weib und Kind verliert, ging es ihr durch den Sinn, wird er mich vielleicht auf den Scheiterhaufen bringen oder mich im See ertränken lassen.
Da sich nicht noch mehr Wölfe an die Schafsherde herangetraut hatten, kamen Aimees Hunde zu ihr gelaufen. Einer war ein schwarzer Rüde mit langen Gliedmaßen, der zweite eine kurzhaarige braune Hündin, der ein halbwüchsiger Welpe von dunkelbrauner Farbe nachlief. Die drei Tiere versammelten sich um sie, als wollten sie die Schäferin vor den Reitern beschützen.
Da begann der kleine Welpe, seine Stimme zu erproben. Er kläffte laut, während die erwachsenen Hunde die Soldaten misstrauisch musterten.
»Das mag sein«, entgegnete John. »Aber das Kind liegt falsch. Der Medikus vermag nichts mehr auszurichten. Sie braucht Eure Hilfe, sonst stirbt sie.« Sein Gesicht nahm die Farbe von reifen Walderdbeeren an.
Aimee atmete tief durch. Sie hatte gewiss keine Lust, sich die Hände abhacken zu lassen. Aber hatte sie denn eine Wahl? Wenn der Baron rief, hatte sie als Untertanin zu folgen.
»Wie lange liegt sie denn schon in den Wehen?«, fragte sie also.
»Vier Stunden«, antwortete John.
Aimee kniete nieder und flüsterte den Hunden etwas ins Ohr, dann legte sie ihren Hirtenstab auf den Boden.
»Habt Ihr ein Pferd für mich?«, wandte sie sich nun an Henry Fellows. Bereitwillig stieg der Hauptmann von seinem Rappen und reichte ihr die Zügel. Seine Leute schienen dar-über ein wenig verwundert zu sein, denn sie hatten ein Handpferd dabei.
»Nehmt meines«, sagte er, und der Ausdruck seiner Miene erstaunte Aimee.
Die Schäferin konnte nicht genau benennen, was in seinen Augen lag, aber offenbar machte er sich um seine Herrin sehr große Sorgen. »John, tust du mir einen Gefallen?«, fragte sie den Laufburschen, nachdem sie, die Hilfe des Hauptmanns ausschlagend, in den Sattel gestiegen war. »Achte auf die Schafe, und wenn der Mittag vorbei ist, gib den Rosen etwas Wasser.«
»Das werde ich tun«, entgegnete John, worauf Aimee die Zügel herumriss und dem Pferd die Hacken in die Flanken bohrte. Der Rappe wieherte kurz auf, dann stürmte er los. Schneller, als die Soldaten ihr folgen konnten, sprengte sie über die Wiese, Ravencroft Castle entgegen.
Im Gemach der Baronin hatte der Priester bereits mit der Letzten Ölung begonnen. Der Atem der Gebärenden ging nur noch schwach, man rechnete jeden Moment mit ihrem Ableben. Ein paar Kerzen, die jemand neben ihrem Bett entzündet hatte, flackerten unstet.
George of Ravencroft stand vor dem Fenster und hatte Mühe, seine Tränen zu verbergen. Liegt ein Fluch auf mir?, ging es ihm durch den Sinn, während er sich am Fensterrahmen festklammerte und die Gebete hinter seinem Rücken überhörte. Die Reiter waren noch immer nicht zurück. Mittlerweile erschien ihm jeder Moment in diesem Gemach wie eine Stunde und eine Stunde wie ein halber Tag. Die Zweifel, dass irgendwer seiner Gemahlin noch helfen konnte, wurden immer größer. Vielleicht fanden seine Männer dieses seltsame Weib nicht, oder es weigerte sich …
Donnernder Hufschlag holte ihn schließlich aus seiner Starre fort. Als er aufblickte, sah er, wie eine Frau in grauen Kleidern und mit offenem blondem Haar auf einem Rappen auf den Hof sprengte, aus dem Sattel sprang und durch den Dienstboteneingang ins Haus
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