Fesseln des Schicksals (German Edition)
erzählen, was passiert ist? Sollen wir etwa vor Neugier sterben?»
Unter dem Tisch versetzte Hortensia ihr einen kleinen Tritt. Auf keinen Fall sollte sie diesen Klatschtanten etwas erzählen. Aber Charlotte achtete überhaupt nicht darauf. Sie hatte keine Lust zu schweigen, so glücklich war sie. Und schließlich war nichts Schlimmes dabei, dass sie den Mann geküsst hatte, der sie in Kürze zur Frau nehmen würde.
«Es gibt nichts zu erzählen. Außer vielleicht, dass Richard mich geküsst hat.»
Charlotte wich Hortensias Blick aus, denn sie wusste, dass ihre Schwester sie mit ihren tiefgründigen blauen Augen warnend anblickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie auf keinen Fall noch mehr sagen durfte. Aber sie hatte nicht die geringste Absicht, ihr diesen Gefallen zu tun.
Verschwörerisch blickten Dorothy und Laura sich an. Am gleichen Tag noch würde man in der ganzen Grafschaft wissen, dass Richard Reemick die schamlose Charlotte Parrish geküsst hatte. Und was schlimmer war, dachte Hortensia, es würde ihre Schwester nicht einmal kümmern.
«Mein Gott!», rief Laura aus und hob theatralisch die Hände. «Wie konntest du erlauben, dass er dich küsst! Schließlich seid ihr nicht verlobt!», fügte sie entsetzt und mit tadelnder Stimme hinzu. Dabei schüttelte sie ihre langen Korkenzieherlocken von einer Seite auf die andere.
«Es war nur ein unschuldiger Kuss auf die Wange», warf Hortensia ein, in dem Versuch, dieser Intrige Einhalt zu gebieten. Für einen kurzen Moment hatte es den erwünschten Effekt, ein Kuss auf die Wange war kaum unkeusch zu nennen und gab nicht genügend Zündstoff her, um Charlottes Ruf zu schaden. Enttäuscht sahen Dorothy und Laura sich an. Aber ihrer Schwester war nicht zu helfen.
«Keineswegs», korrigierte Charlotte. «Es war ein richtiger Kuss. Und ich kann euch versichern, dass es wundervoll war.»
«Dann hat er also um deine Hand angehalten?», wollte Laura wissen.
«Das wird er bald tun», antwortete Charlotte scharf.
Skeptisch zogen Laura und Dorothy die Augenbrauen hoch.
«Es ist nicht so, wie es scheint.» Schnell widersprach Hortensia, die immer mehr bereute, Lauras Einladung gefolgt zu sein.
«Doch, Hortensia. Es ist, wie es scheint», verbesserte Charlotte, die diese ganze Scheinheiligkeit satthatte. «Richard hat mir in die Augen gesehen und hat mich so leidenschaftlich geküsst, dass ich fühlen konnte, wie das Blut in meinen Adern pochte und mein Herz fast zersprang.»
«Mein Gott, Charlotte Parrish! Hast du denn nicht das geringste Schamgefühl? Gibt es denn nichts auf der Welt, das dir peinlich ist?», schalt Laura sie sichtlich schockiert, während Dorothy ihr still beipflichtete.
«Sei doch nicht so verlogen, Laura!», brach es aus Charlotte heraus. «Ich kann dir versichern, wenn du auch nur ein einziges Wort von dem weitererzählst, was ich gerade gesagt habe, werden dein Vater und andere ehrwürdige Personen des County noch heute erfahren, dass du letzte Woche nicht bei uns zum Tee warst, wie du alle hast glauben machen. Stattdessen hast du dich heimlich mit Edgar Carmody getroffen», drohte Charlotte und funkelte Laura aus ihren grünen Augen an wie eine Raubkatze. «Und wenn ich mich recht entsinne, ist der besagte junge Mann bereits verlobt. Noch dazu mit deiner lieben Cousine», bemerkte sie schneidend, fast boshaft. «Ich frage mich wirklich, was eine anständige junge Frau wie du mit einem so guten Ruf ohne Begleitung im Haus eines alleinstehenden, attraktiven Mannes sucht, dem ein gewisser Ruf vorauseilt. Aber das geht mich natürlich nichts an, Laura.»
Lauras Gesichtsfarbe wechselte von leichenblass zu scharlachrot.
Hortensia lächelte. Sie selbst hätte zwar nicht den Mut aufgebracht, Laura so etwas ins Gesicht zu sagen, aber die hatte es eindeutig verdient. Und das Wichtigste war, dass Charlottes Ruf nicht gefährdet war.
In diesem Moment hörte man die Räder einer Kutsche, die vor dem Haupteingang hielt. Kurze Zeit später erschien Camille Carson, strahlend vor Glück.
«Camille, was für eine Überraschung!» Laura erhob sich und ging ihr entgegen. «Ich dachte, du hättest es dir anders überlegt und kämest nicht.»
«Es tut mir leid», entschuldigte sich Camille und gab Laura zwei Küsschen auf die Wange. «Aber es ist so viel passiert, dass ich ganz vergessen habe, jemanden zu schicken und Bescheid zu geben.»
Camille übergab einer Sklavin ihren Sonnenschirm und setzte sich auf den leeren Platz.
Als die Sklavin ihr
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