Fesseln des Schicksals (German Edition)
wenn Richard der ärmste Mann der Welt gewesen wäre, hätte sie alles für ihn getan.
«Gewiss», sagte Scott, ohne den Blick von ihr zu wenden. «Ich habe vergessen, dass die Liebe nicht für Sie existiert.»
«Genau», antwortete Charlotte im Brustton der Überzeugung.
«Dann waren Sie also nie verliebt?»
«Nein», sagte sie ernst, konnte aber nicht vermeiden, dass ihre Stimme bei der Erinnerung an Richard einen bitteren Unterton erhielt.
«Wie schade», gab Scott zurück und verstummte. Einen Moment lang war die Trauer in Charlottes Augen unübersehbar, und Hortensia sah sie besorgt an.
Dann lächelte Scott. «Nun, ich habe mich schon oft verliebt», gestand er.
«Oft?», fragte Hortensia neugierig.
«Hunderte von Malen!», rief er lächelnd aus. «Und immer in schöne und reiche Frauen!»
Noah und Hortensia lachten.
«Sie sind wirklich ein Romantiker», beschloss Hortensia.
«Die Romantik ist die Hoffnung der Armen», sagte Scott mit einem Augenzwinkern.
Als sie sich diesmal verabschieden mussten, kam auch Charlotte mit an die Tür. Auch wenn sie es nie zugegeben hätte, hatte sie sich sehr wohl gefühlt.
Der gleiche Ablauf wiederholte sich an den nächsten Tagen. Montags bis samstags kam Scott pünktlich um vier Uhr, um Noah zu unterrichten, und danach blieb er immer zum Abendessen. Schon bald war er fast ein weiteres Familienmitglied geworden.
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E rst Mitte Mai konnte der Frühling den Winter vertreiben. Am ersten wärmeren Sonntag, an dem man die dicken Wintercapes im Schrank lassen konnte, zogen Hortensia und Charlotte ihre hübschen neuen Kleider an und tauschten die dicken Filzhüte gegen elegante Florentinerhüte. Nach der Kirche ging Noah zurück nach Hause, um zu lernen, während Charlotte und Hortensia einen Spaziergang durch den Boston Common machten.
Der Park war wunderschön. Die Bäume hingen wieder voller Blätter, und die Blumen waren aus dem langen Winterschlaf erwacht und ließen die Beete im Glanz ihrer Farben erstrahlen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die die gleiche Idee gehabt hatten, schlenderten Charlotte und ihre Schwester über die Sandwege.
Schließlich verließen sie den breiten Weg, auf dem anscheinend ganz Boston unterwegs war, und setzten sich nahe am Ufer des Teiches ins Gras. Ein paar Schwäne bewegten sich elegant über das blaue Wasser und schnappten nach den Brotbrocken, die eine Gruppe Kinder ihnen zuwarf.
«Wie schön es ist», rief Hortensia aus und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
«Ich hatte schon Angst, dass ich diese Wärme nie wieder auf meiner Haut spüren würde», nickte Charlotte und legte ihren Hut ab.
«Weißt du, Charlotte, ich hätte nie gedacht, dass mir die Sonne so sehr fehlt.» Einer der Schwäne richtete sich flügelschlagend auf und brachte die Kinder zum Lachen.
«Ich auch nicht», sagte Charlotte und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
Die Zeit schien stillzustehen. Die Stimmen der Passanten rückten in den Hintergrund, bis man nur noch das Singen der Vögel hörte. Die Schwestern schwiegen, in ihre eigenen Gedanken versunken.
Auf einmal spürte Charlotte einen Schatten zwischen sich und der Sonne und schlug die Augen auf.
«Scott!», rief sie überrascht aus. Sie hatten gar nicht gehört, wie er herangekommen war.
«Guten Tag, die Damen», sagte er und trat nur so weit zurück, dass Charlotte wieder in der Sonne saß. Ihr Blick fiel auf Brian, der noch auf dem Gehweg stand. «Wir sind mit Peter hier. Er wollte die Schwäne füttern.»
Scott zeigte auf einen kleinen Jungen, der am Ufer stand und ein großes Stück Brot ins Wasser warf.
Brian winkte ihnen zu und kam näher.
«Die Damen Lacroix», grüßte er und hob höflich die Hand an den Hut. «Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.»
«Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite», antwortete Hortensia.
«Wir wollten einen Spaziergang machen. Vielleicht haben Sie Lust, uns zu begleiten?», fragte er und hielt Hortensia seine Hand hin.
«Miss Lacroix», ahmte Scott ihn nach und bot Charlotte seine Hand mit einer komischen Verbeugung.
«Mit Vergnügen», antwortete sie und sprang auf.
Dann gingen die beiden ein paar Meter hinter Hortensia und Brian her zu Peter.
«Onkel, die Schwäne haben alles gefressen, was ich ihnen gebracht habe», erklärte der Junge und kippte die Papiertüte aus, um zu zeigen, dass sie leer war.
«Sie haben nach dem harten Winter wohl großen Hunger gehabt. Zum Glück hast du an sie gedacht.»
«Es sind ja auch
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