Fesseln des Schicksals (German Edition)
noch andere Leute gekommen», sagte das Kind bescheiden.
«Stimmt, Peter. Ihr habt das alle sehr gut gemacht.» Bei diesen Worten breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Kleinen aus.
«Ich sehe, du hast ein Händchen für Kinder», flüsterte Charlotte ihm zu.
«Wahrscheinlich bin ich selbst noch ein bisschen ein Kind.»
Langsam schlenderten sie zur Brücke, die über den Teich führte. Von der Mitte hatte man einen wundervollen Blick. Hortensia und Brian waren einfach weitergegangen, aber Charlotte blieb stehen und sah über den Park. Sie atmete tief ein.
«Was für ein wunderschöner Anblick.»
Scott stand neben ihr und betrachtete sie aufmerksam. Die Sonne hatte ein wenig Farbe auf die Wangen der jungen Frau gezaubert. Weil sie auf dem Rasen gelegen hatte, war ihr Haar etwas in Unordnung geraten, und im Sonnenlicht schienen ihre Augen noch grüner zu strahlen als sonst.
«Wunderschön», sagte er und konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Sie lächelte ihn an.
Als sie ihren Weg fortsetzten, bemerkten sie zwei junge Damen, die sich nach Brian und Hortensia umgedreht hatten und im Weitergehen auch Charlotte von oben bis unten taxierten.
«Guten Tag», grüßte Scott sie freundlich.
Die beiden Frauen antworteten mit einem höflichen Nicken.
«Anscheinend weckt ihr die Neugierde der Passanten», flüsterte Scott Charlotte ins Ohr. Und tatsächlich: Nur ein paar Schritte weiter kamen wieder zwei junge Frauen an ihnen vorbei.
«Guten Tag, Scott», grüßte ihn die größere der beiden und musterte eingehend seine grünäugige Begleiterin.
«Guten Tag, Susan. Lauren.»
Auch Charlotte ließ sich nichts entgehen. Die beiden waren vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als sie selbst – in einem Monat würde sie dreiundzwanzig werden. Man sah an den studierten Bewegungen und den Kleidern, dass sie zur besten Gesellschaft gehörten. Und sie waren beide hübsch und blond. Nach der Gesichtsform zu urteilen, waren es Schwestern, und der feindselige Blick, den Lauren ihr zuwarf, verriet allzu deutlich, dass sie an Scott interessiert war.
«Du bist also ein Herzensbrecher», sagte Charlotte, als sie an ihnen vorbei waren. «Mein Gott, kennst du eigentlich alle Frauen in Boston?»
«Nur die heiratsfähigen jungen Damen aus den besten Familien.»
Charlotte lächelte.
Gegen Mittag verabschiedeten sie sich, und Brian lud sie zu einem Picknick am nächsten Wochenende ein. Eine wunderbare Gelegenheit, die gute Bostoner Gesellschaft besser kennenzulernen.
Auch Noah war eingeladen, aber sie entschuldigten ihren Bruder damit, dass er lernen müsste. In Wirklichkeit würde er sich unter Brians Gästen unbehaglich fühlen, genauso wie Brians Gäste in seiner Gegenwart.
***
Noch ehe sie sichs versahen, war der Tag von Noahs Prüfung gekommen. Charlotte, Hortensia, Scott und Brian begleiteten ihn zur medizinischen Fakultät.
«Du wirst es gut machen», munterte Scott ihn auf, bevor er in den Hörsaal gerufen wurde.
«Ich weiß nicht, Scott. Ich habe das Gefühl, als könnte ich mich an nichts mehr erinnern.»
«Hab Vertrauen. Alles wird gut.»
Brian drückte ihm die Hand, Hortensia gab ihm einen Kuss auf die Wange, und Charlotte lächelte ihm ermutigend zu.
«Glaubst du wirklich, dass er besteht?», fragte Charlotte Scott, als Noah hinter der Tür verschwunden war.
«Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran.»
«Er muss bestehen, Scott. Es ist wichtig für ihn.»
«Er wird es schaffen.»
«Versprich es mir», sagte sie und sah ihm in die Augen.
Ihr Blick war wie Feuer in seiner Seele. Sie vertraute ihm. Er hätte ihr alles versprochen.
«Ich verspreche es dir, Charlotte.»
Sie lächelte.
Zwei Stunden später kam Noah zurück. Charlotte lief ihm eilends entgegen.
«Wie war es?»
«Ich glaube, gut.»
«Du glaubst? Haben sie denn nichts gesagt?»
Noah schüttelte den Kopf und sah zu Boden. «Wir müssen warten.»
«Wie lange?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll», gestand Charlotte seufzend.
«Mach dir keine Sorgen, Noah», sagte Hortensia beruhigend. «Du hast bestimmt bestanden.»
Noah versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. All die Mühen. All die Hoffnungen. Und jetzt hing alles von diesen fünf Männern ab, die ihn unentwegt befragt hatten. Wieder lag sein Schicksal in den Händen weißer Männer. Im Geiste ging Noah seine Antworten noch einmal durch. Sie waren klar und eindeutig gewesen. Er hatte kein einziges Mal gezögert und war
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