Fesseln des Schicksals (German Edition)
sie gegen ein größeres Paar eintauschen, aber da die Kinder im Sommer sowieso barfuß herumliefen, hatte sie sich noch nicht darum gekümmert. Offensichtlich war das Schicksal heute gegen sie, denn kein Sklave durfte ohne Schuhe vor seinen Herrschaften erscheinen.
Zum zigsten Mal in diesen letzten Minuten jammerte Noah schweigend. Aber eine andere Lösung gab es nicht. Also gab er sich geschlagen und bereitete sich innerlich auf die Tortur vor, seine Füße in diese Schuhe hineinzuzwängen.
Noah hielt die Luft an, während seine Mutter ihm die Schnürsenkel zuband und ihm half, sich aufzurichten. Eine Träne rollte über seine Wange.
Jetzt ergriff Velvet ihren Sohn bei den Schultern und beugte sich zu ihm herunter, bis sie ihm direkt in die Augen blicken konnte. «Hör mir gut zu», ermahnte sie ihn, während sie ihm vorsichtig die Träne abwischte. «Alles wird gut. Hab Vertrauen», sprach sie ihm zu. «Aber du musst tun, was ich dir sage. Wenn du vor den Herren stehst, halte den Kopf gesenkt. Warte schweigend, bis sie dich etwas fragen. Und wenn du ihnen antwortest, schau ihnen nie direkt in die Augen. Vor allem dem Herrn nicht, hörst du?»
Noah nickte schweigend.
«Gib nichts zu, bevor du nicht danach gefragt wirst», fuhr seine Mutter fort. «Sag nichts, bevor sie nicht fertig gesprochen haben, und denk daran», von neuem ermahnte sie ihn, «wenn sie dich wirklich gesehen haben, darfst du weder leugnen noch widersprechen. Vor allem darfst du ihnen nicht widersprechen. Warte einfach und sag nichts. Und vergiss nicht, sie jedes Mal Master oder Herrin zu nennen, wenn du etwas sagst.»
Zu all den Ratschlägen seiner Mutter nickte der kleine Noah stumm. Danach gab Velvet ihm einen Kuss auf die Stirn. Ohne sich umzudrehen, wartete sie, bis die Schritte sich draußen verloren. Sie wollte ihn nicht weggehen sehen. Dann setzte sie sich und tat etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte. Sie schloss die Augen und betete in der Dunkelheit ihrer Hütte zum mächtigen Gott der Weißen, dass er ihren Jungen beschütze.
Noah lief indes, so schnell er konnte, zum Herrenhaus. Seine Zehen waren völlig zusammengequetscht, die Schuhe drückten entsetzlich. Das harte Leder rieb an seinen Füßen, und er wusste, dass er Blasen bekommen würde. Aber immerhin lenkte der Schmerz ihn von seiner Angst ab. Als er am Herrenhaus ankam, vermied er es, am Haupteingang vorbeizugehen, und begab sich zum hinteren Teil des Hauses, wo die Küche war.
Thomas wollte gerade das Haus betreten, als Noah ihn einholte. «Du warst schnell», sagte der Alte. «Komm. Sie warten auf dich.»
Die beiden Sklaven verließen die Küche und betraten den schmalen Flur, der zum Hauptteil des Hauses führte. Für einen Augenblick vergaß Noah vollkommen, warum er eigentlich hergekommen war. Sein Blick sprang von einem Bild, auf dem weiße Gipfel hoch in den Himmel ragten, zu einem anderen Gemälde, das in lebendigen Farben Schiffe auf weiten Meeren zeigte. Sie kamen an funkelnden Kristallleuchtern vorbei, die das Licht in einen wunderschönen Regenbogen verwandelten, und gingen über Teppiche mit prächtigen Mustern, und obwohl Noahs Schuhe noch immer schmerzhaft drückten, war es, als würde er über dicke Lagen weicher Baumwolle laufen. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wäre, ohne die schrecklichen Stiefel auf einem solchen Teppich zu stehen.
Schließlich traten sie in das Empfangszimmer. Noah stockte der Atem.
Nicht einmal in seinen Träumen hatte er sich so schöne Dinge ausgemalt. Weiße Säulen, wie sie auch die Veranda umgaben, eine Treppe aus glänzendem, rötlichem Holz und Vasen, die ihm bis ans Kinn reichten und auf denen in kobaltblauen Einlegearbeiten geflügelte Katzen zu sehen waren, die Feuer spuckten.
Thomas ging neben ihm her, anscheinend ließ er sich nicht im Geringsten von den Wundern dieses Ortes beeindrucken. Gemessenen Schrittes führte der alte Sklave Noah bis an den Salon und bedeutete ihm zu warten.
«Viel Glück!» Aufmunternd zwinkerte Thomas dem Jungen zu und kehrte auf dem gleichen Weg zurück. Noah blieb reglos in der Tür stehen.
Die ganze Familie war im Salon versammelt. Master Parrish saß auf einem Sessel, der Noah unendlich bequem vorkam, und studierte aufmerksam große Bögen aus Papier, auf denen man kleine schwarze Zeichen erkennen konnte. Herrin Katherine saß am Fenster und stickte, während die kleine Hortensia mit den schönsten Buntstiften, die Noah sich jemals hätte vorstellen können, in
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