Fesseln des Schicksals (German Edition)
ansahen, wenn eine Mutter sich um die wichtigsten Bedürfnisse ihrer Kinder selbst kümmerte. Vor allem sollten sie es nicht für eine würdelose Aufgabe halten, die man besser Sklaven überträgt.
Trotz der Schlafhaube waren Hortensias Haare vollkommen verklettet, und Katherine war fünf lange Minuten damit beschäftigt, den dichten blonden Lockenkopf des Mädchens zu glätten. Ihr Haar war mit Sicherheit das einzig Rebellische an ihrer Kleinen. Nur mit viel Geduld schaffte Katherine es, große Korkenzieherlocken aus Hortensias Zopf fallen zu lassen.
«Ihr seht sehr hübsch aus», lobte Katherine die Mädchen, als sie fertig waren. «Jetzt geht frühstücken, und dann könnt ihr Mademoiselle Gassaud begrüßen.»
Hand in Hand verließen die beiden Mädchen das Zimmer und rannten lachend die Treppe hinunter. Katherine folgte ihnen.
Als sie im Esszimmer ankam und am Kopfende des großen Esstisches Platz nahm, saßen die Mädchen schon. Zu ihrer Rechten hatte Hortensia geduldig auf ihre Mutter gewartet. Links von ihr versuchte Charlotte zu verheimlichen, dass sie sich schon etwas in dem Mund gesteckt hatte.
«Charlotte, du sollst erst anfangen, wenn alle am Tisch sitzen», rügte die Mutter sie.
Die Backen zu voll, um zu antworten, nickte Charlotte und schluckte hastig die fünf Weintrauben hinunter, die sie stibitzt hatte.
Latoya, das Haar mit einem grünen Kopftuch bedeckt, stand unbeweglich neben einem geblümten Lampenschirm und war kaum zu bemerken. Erst als ihre Herrin sich gesetzt hatte, nahm die Sklavin die Teekanne von einem Silbertablett auf der Anrichte. Zuerst schenkte sie Katherine ein, dann nahm sie den Krug mit heißer Schokolade für die Mädchen.
«Danke, Latoya», sagte Katherine und atmete genussvoll das Aroma ein, das aus der Tasse aufstieg.
Ganz leicht nur nickte die Sklavin und füllte gleichzeitig Charlottes Tasse bis zum Rand mit Schokolade. Zum Schluss bediente sie Hortensia. Diesmal aber füllte sie die Tasse nur bis zur Hälfte mit der dunklen Flüssigkeit. Dann zwinkerte Latoya dem Mädchen zu und blickte für den Bruchteil einer Sekunde zur Mitte des Tisches, wo vor Hortensia eine Schale mit Milchbrötchen stand.
Das Mädchen folgte Latoyas Blick und fand, was es suchte. Halb unter den größeren Brötchen versteckt, lag ein kleineres, das Hortensia eilig nahm. Dankbar lächelte sie Latoya zu. Im Unterschied zu ihrer Schwester, deren gieriger Appetit kaum zu stillen war, hatte Hortensia niemals Hunger. Trotzdem hatte die Mutter bestimmt, dass sie jeden Morgen wenigstens ein Brötchen essen und eine Tasse Schokolade trinken musste, bevor sie vom Tisch aufstehen durfte.
Deshalb machte Olivia ihr jeden Morgen ein kleineres Brötchen, und Latoya sorgte dafür, dass es in Hortensias Reichweite lag.
«Vielen Dank, Latoya.»
«Gern geschehen, Miss Hortensia.»
Keinem anderen weißen Herren hätte Latoya gewagt zu antworten, aber bei Herrin Katherine und Miss Hortensia lag der Fall anders. Charlotte war dagegen wie ihr Vater, also wie die meisten weißen Herrschaften.
Hortensia zupfte ein winziges Stück aus dem Brötchen und steckte es sich in den Mund. Eine Minute später kaute sie immer noch darauf herum. Aber an jenem Vormittag war das Glück auf ihrer Seite. Ihrer Mutter schien plötzlich etwas einzufallen, und sie wandte sich einen kurzen Augenblick lang an Latoya. Genug Zeit für Hortensia, um ihrer Schwester unter dem Tisch heimlich die Hälfte ihres Brötchens zu reichen, das Charlotte sich auf einmal in den Mund steckte.
«Es ist noch früh, Charlotte. Du hast Zeit, iss langsam», schalt Katherine ihre Tochter, als sie die vollen Backen des Mädchens sah.
«Bald beginnt der Unterricht. Noah wird sicher gleich hier sein.»
Fast verschluckte sich Charlotte und stellte die Tasse wieder hin, die Latoya gerade ein zweites Mal gefüllt hatte. Mit vor Überraschung aufgerissenen Augen sah das Mädchen ihre Mutter an und versuchte zu widersprechen, aber ihr Mund war viel zu voll, um ein Wort artikulieren zu können.
«Charlotte, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mit vollem Mund nicht reden sollst. Erst hinunterschlucken, dann kannst du so viel protestieren, wie du willst.»
«A…ber …»
«Charlotte!», warnte Katherine.
Ein Blick ihrer Mutter genügte, und Charlotte wusste, dass sie besser gehorchte. Schnell ergriff sie die Tasse mit der Schokolade und spülte mit einem großen Schluck alles hinunter. «Ich dachte, er würde doch nicht kommen», klagte sie
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