Fesselnde Entscheidung (German Edition)
hatte er knallhart gesagt. Im ersten Augenblick hatte Tim gedacht, er höre nicht richtig.
15 Jahre! Geht`s noch?
Aber dann wurde ihm klar, dass man 15 Jahre nicht für einen dummen Jungenstreich bekam, für den er es anfangs gern alles hätte durchgehen lassen.
Mit 15 Jahren stand man auf einer Stufe mit Mördern und anderen Schwerverbrechern. Dadurch wurde ihm erst richtig bewusst, was er eigentlich getan hatte: Einen Menschen brutal überwältigt, ihm mit dem Tode gedroht, ihn über Tage in einen Keller gesperrt, einen anderen auf grausame Art erpresst … Und das alles nur, weil diese Menschen in Besitz dessen waren, wonach er gegiert hatte: Geld.
Er konnte selbst nicht mehr verstehen, wie er dazu fähig gewesen war, wie er überhaupt so eine hohe kriminelle Energie hatte aufbringen können.
Und damit war sie vollendet, die lange und schmerzhafte Geburt der Erkenntnis, den Knast und alles drumherum niemand anders zu verdanken, als sich selbst. Noch quälender aber war für ihn das Gefühl, es voll und ganz verdient zu haben.
Tim bereute zutiefst, was er getan hatte. Alles. Ausnahmslos. Niemals hätte er sie entführen, niemals ihren Vater erpressen und niemals hätte er mit ihr schlafen dürfen. Je mehr er darüber nachdachte, umso mehr stieg in ihm die Angst auf, dass er ihre Situation schamlos ausgenutzt hatte, und dass das ein zusätzlicher Straftatbestand sein könne - wie auch immer man den dann nannte. Oder aber, sie hatte ihn schlichtweg der Vergewaltigung bezichtigt. Auch das war natürlich sehr gut möglich, wie Tim fand. Jedes Mal, wenn er daran dachte, schnürte sich ihm der Hals zu.
Scheiße! Was hast du nur für einen Mist gebaut!
Aber er nahm sich vor, solange sein Pflichtverteidiger ihn nicht mit diesem Vorwurf konfrontieren würde, beharrlich zu diesem Thema zu schweigen - und zu hoffen.
*
Zeuge einer Vergewaltigung geworden zu sein, rangierte auf Tims imaginären Rangliste der schlimmsten Gefängnis-Erfahrungen unangefochten auf Platz eins und konnte eigentlich nur dadurch abgelöst werden, selbst Opfer einer Vergewaltigung zu werden. Weitaus weniger schlimm, aber dennoch auf Platz zwei, landete der Besuch seiner Mutter.
Als ihm ihr Besuch angekündigt wurde, überrollte ihn plötzlich ein ihm absolut unvertrautes Gefühl mit so einer Heftigkeit, dass es ihm fast die Luft zum Atmen nahm: Mit aller Macht musste er sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Die ganze Zeit über hatte er keine einzige Träne geweint und stellte jetzt erschüttert fest, was der Knast binnen kürzester Zeit aus ihm gemacht hatte
:
eine Memme, wie er fand.
Es war nie seine Stärke gewesen, groß Gefühle zu zeigen. Im Gegenteil: Er empfand es als Zeichen der Schwäche, wenn Männer weinten. Dass er nun auch zu diesem Kreis gehören sollte, passte ihm überhaupt nicht.
Und wegen des Besuchs seiner Mutter zu heulen, ging schon mal gar nicht.
Sie bedeutete ihm viel. Er war nie ein Muttersöhnchen gewesen, aber wenn er sich zwischen seinem Vater und ihr hätte entscheiden müssen – seine Wahl wäre eindeutig auf sie gefallen. Liebevoll hatte sie ihn mal ihr Chaoskind genannt. In den vergangenen Jahren hatte er immer mal wieder Ärger gemacht, zwar nie besonders aufsehenerregend, wie er zumindest fand, aber immer hatte sie keine Sekunde gezögert und zu ihm gehalten. Und jetzt? Wie maßlos hatte er sie enttäuscht?
Er hatte gewusst, dass er ihr früher oder später gegenüber treten müsse und ihm graute davor, in ihre von unendlicher Enttäuschung gezeichneten Augen sehen zu müssen.
*
Der Besucherraum erinnerte ihn mit seinen Holztischen und Stühlen an ein ödes – in mintgrün getünchtes – Klassenzimmer. Nur die Tafel fehlte, aber der strenge Klassenlehrer war anwesend. Genau genommen waren es sogar zwei. Ein JVA-Bediensteter an der Tür und seine Kollegin direkt gegenüber an der Wand. Links von der Tür saß ein anderer Häftling mit seinem Besuch – vom Alter her vielleicht seine Freundin oder Schwester.
Tim musste trocken schlucken, als er seine Mutter zusammen mit seinem zweitältesten Bruder, Simon, entdeckte. Simon sah wie frisch aus dem Urlaub aus: Das weiße Hemd verstärkte seine Gesichtsbräune und seine dunkelblonden krausen Haare wirkten vom Salzwasser und der Sonne geblichen. Ach ja, fiel Tim ein, er war vor kurzem mit seiner Familie in Portugal gewesen.
Aber seine Mutter sah elend aus. Sie tupfte sich gerade mit einem Taschentuch über die Augen und hatte
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