Fesselnde Entscheidung (German Edition)
ihn noch nicht gesehen. Es kam ihm vor, als sei sie über Nacht plötzlich ergraut. Ihre Kurzhaarfrisur föhnte sie eigentlich immer in Form. Das hatte sie heute nicht getan. Müde hingen ihre grauen Haare über ihr vom zu vielen Weinen aufgeweichtes Gesicht. Er war immer stolz auf sie gewesen, weil sie sich trotz ihrer 65 Jahre modern kleidete. Aber auch davon war heute nichts zu sehen. Mit ihrem schwarzen Pullover sah sie aus, als würde sie Trauer tragen - Trauer um ihren verlorenen Sohn. Dann trafen sich ihre Blicke und er konnte seine Tränen fast nicht mehr zurückhalten. Sei kein Jammerlappen, ermahnte er sich streng.
Du wirst verdammt noch mal nicht heulen!
Am liebsten wäre er ihr in die Arme gefallen, aber er war vorher belehrt worden und wusste, dass kein Körperkontakt erlaubt war, so setzte er sich ihnen einfach gegenüber.
Nach den ersten Sekunden betroffenen Schweigens fragte Simon, scheinbar bemüht möglichst normal zu klingen: »Wie geht’s dir?«
Beschissen
, dachte Tim und zuckte schweigend nur mit den Schultern.
»Brauchst du irgendetwas? Klamotten oder … einen Anwalt?«
Tim dankte seinem Bruder innerlich für die schlichte Sachlichkeit.
»Ich habe einen Pflichtverteidiger bekommen. … Aber Klamotten wären echt super. Und … vielleicht ein kleiner Fernseher. Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie so viel gelesen. … «
»Klar, kein Problem. Bring ich dir vorbei … beziehungsweise … geb ich vorne ab.«
»Danke.«
Er betrachtete seine Mutter und fragte sich, warum sie nichts sagte.
Keine Fragen?
Keine Vorwürfe? Nichts?
»Maja war da«, riss Simon ihn aus seinen Gedanken, »sie wollte den Schlüssel für deine Wohnung haben und noch irgendwelche Sachen, die scheinbar ihr gehören, holen. Aber … die Polizei hat die Wohnung noch nicht freigegeben.«
Maja
, ging ihm durch den Kopf,
sein blonder Engel
! Vier Jahren hatten sie eine On-Off-Beziehung gehabt. Bis sie Anfang des Jahres beschlossen hatten, endgültig getrennte Wege zu gehen, was ihnen mit der Ausnahme von zwei gemeinsamen Nächten auch nahezu gelungen war.
Sie war es, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte, wenn er mal wieder drohte abzuheben. Wäre er auf der Suche nach einem Sündenbock gewesen, hätte er ihn mit Maja gefunden. Mit ihr an seiner Seite wäre das alles niemals passiert, da war er sich sicher. Aber er suchte keinen Schuldigen, weil er den längst gefunden hatte.
»Glaubst du, dass sie mich besuchen kommen wird?«
Simon schüttelte zaghaft mit dem Kopf: »Glaube ich ehrlich gesagt nicht. Sie war entsetzt, … wie wir alle …«, er brach ab.
Wieder spürte Tim Tränen in sich aufsteigen, wieder schluckte er sie hinunter. Er holte tief Luft und sagte dann zu seiner Mutter: »Es tut mir so leid, Ma.«
Tim sah, wie sie um Fassung rang und sich wieder mit dem Taschentuch die Augen trocken tupfte.
»Als die Polizei bei uns war, habe ich sofort gesagt, dass
mein
Sohn so etwas niemals getan hat. Aber … es ist alles war, oder?«, fragte sie mit einer tränenerstickten Stimme und blickte ihn so traurig und voller Verzweiflung an, dass es ihm ein Stich in sein Herz versetzte.
»Ich weiß jetzt nicht, was du mit
alles
meinst. Aber … ich befürchte«, sagte er leise und nickte schuldbewusst.
»Warum, Tim? Um alles in der Welt, warum?«
Mit dieser Frage hatte er gerechnet und trotzdem hatte er keine akzeptable Antwort parat.
»Weil ich bescheuert war. …Ich wollte es endlich mit meiner Musik schaffen und ...«
»Aber Tim, das ist doch kein Grund!«, fiel sie ihm ins Wort, »warum bist du nicht zu mir gekommen? Wir konnten doch früher immer über alles sprechen?«
Weil es Dinge gibt, über die man nicht mit seiner Mutter spricht, dachte er und zuckte wieder nur still mit seinen Schultern.
Sie drehte sich zu Simon und fragte ihn, ob er noch ein Taschentuch habe. Aber Simon musste passen.
»Die haben mir hier alles abgenommen. Noch nicht mal meine Packung Taschentücher durfte ich mitnehmen! Und wir dürfen auch nur 20 Minuten bei dir bleiben! Wie können die mir vorschreiben, wie lange ich mit
meinem
Sohn sprechen darf?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Ein Blinder hätte gesehen, dass sie die gesamte Situation maßlos überforderte. Umso schlechter fühlte sich Tim, dem es regelrecht physische Schmerzen bereitete, seine Mutter seinetwegen so sehen zu müssen.
»Es tut mir so leid, Ma«, sagte er zum zweiten Mal.
»Das arme Mädchen«, sagte seine Mutter
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