Fettnaepfchenfuehrer Frankreich
sie ihn, den riesigen Kühlschrank, eine Kühl-Gefrier-Kombi, die nicht nur die alltäglichen Lebensmittel beherbergte, sondern auch unglaubliche Mengen an Tiefkühlkost. Das hatte Paula festgestellt, als sie sich einmal in den Schubfächern geirrt hatte. Jetzt hieß es höchste Vorsicht beim Öffnen. Es quietschte erbarmungslos, Paula musste sich zusammenreißen und einen heftigen Ruck wagen, um weiteres Gequietsche zu vermeiden. Uff, geschafft! Vor ihr eröffnete sich alles, was ihr Magen begehrte: Käse, Wurst, Bratenreste, und, sie konnte es kaum fassen, die Schachtel mit den Minitörtchen stand auch noch da. Was für ein nächtliches Glücksgefühl! Behutsam und sorgfältig nahm Paula den Ziegenkäse und die Pastete heraus und naschte davon, so viel sie wollte. Köstlich, einfach köstlich! Sie verstaute alles wieder dort, wo es hingehörte. Und zum Abschluss gönnte sie sich ein kleines Erdbeertörtchen. Das würde bestimmt niemand merken. Schließlich gab es ja kein Frühstück. Und außerdem: Was war denn falsch daran? Sie hatte einfach Appetit. Erleichtert und gesättigt schlich Paula wieder in ihr Zimmerchen zurück, legte sich ins Bett und schlief sofort wohlig ein.
Am nächsten Morgen traf sie gut gelaunt und ausgeschlafen auf eine wie immer leicht hektische Claudine. » Excuse-moi, Paula, mais dans notre famille personne ne se sert au frigo pendant la nuit! Si tu ne manges pas assez, il faut me le dire! « (Paula, in unserer Familie bedient sich niemand nachts am Kühlschrank! Wenn du nicht genug zu essen bekommst, musst du mir das sagen!) Paula wurde purpurrot und wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte doch kein Verbrechen begangen! » D’accord « (In Ordnung), stammelte sie etwas verschämt und schlürfte ihren heißen Kaffee. Das Telefon klingelte und Paula betete inständig, dass es für Claudine oder sie selbst sein möge, damit sie aus dieser unschönen Situation herauskäme. Marie rief die Treppe herunter: » Paula c’est pour toi! « (Für Dich, Paula!) Gott sei Dank. Am anderen Ende war ihre beste Freundin Sophie. »Was für ein Glück, dass du jetzt anrufst, Sophiechen!« Paula redete wie ein Wasserfall. Als sie eine halbe Stunde später wieder in die Küche kam, teilte ihr Claudine mit, dass sie in Zukunft nur noch einmal am Tag telefonieren könne. Sie müsse sich stärker auf ihre Hausaufgaben konzentrieren. Schließlich seien die Ferien jetzt vorbei und sie wolle doch in ihrem Austauschjahr auch etwas lernen, oder etwa nicht?
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Paula wusste nicht, dass es bei den Bouchards – wie in einigen französischen Familien – ein unausgesprochenes Verbot gab, sich nachts am Kühlschrank zu bedienen. Auch wenn das kein Verbrechen ist, ruft eine Verbotsüberschreitung natürlich Unmut hervor. In Frankreich wird vor allem zu den festen Mahlzeiten gegessen und kaum zwischendurch. Dadurch gebührt diesen Momenten des Zusammenkommens mehr Respekt und Zeit und würdigt das, was auf den Tisch kommt, umso mehr. Eltern achten streng darauf, dass ihre Kinder nicht zu viel Süßigkeiten und Ähnliches zwischendurch naschen, um für das Mittag- und Abendessen noch genug Platz im Bauch zu haben. Hinzu kommt, dass der Kühlschrank ein hochsensibles Feld ist. Hier beansprucht die französische Hausdame gern eine Alleinherrschaft – sie macht die Einkäufe, bereitet das Essen und hat den Überblick über das, was da ist und was fehlt. Wenn nachts darin herumgefuhrwerkt wird, entspricht das nicht mehr ihrer Ordnung.
Und das Telefonieren? Paula pflegt ihre Kontakte nach Deutschland intensiv und regelmäßig, was der Hausherrin ebenfalls missfällt. Sie findet, dass sich Paula mehr auf ihre Zeit in Frankreich einstellen und ihre Hausaufgaben ernst und gewissenhaft erledigen sollte. Mit dem Ärger über Paulas nächtliche Kühlschrankorgie im Nacken kam es dann zum Telefonverbot.
Was können Sie besser machen?
Wenn man ein ganzes Jahr in einer fremden Gastfamilie verbringt, ist es durchaus ratsam, sich zunächst nach den familieninternen Regeln zu erkundigen. Denn auch wenn die Kunst darin besteht zu erspüren, was die »goldenen Regeln« des savoir vivre sind, so hat doch jede Familie zusätzlich ihre eigenen festen Vorschriften, gegen die zu verstoßen umso unangenehmer ist, wenn man für eine Weile zu Gast ist. Paula hätte vermutlich gut daran getan, sich eine eigene kleine Ecke im Kühlschrank zu reservieren, in der sie dann allerlei Dinge bunkert, die ihr über
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