Fettnaepfchenfuehrer Frankreich
ein paar Mal bei Rot über die Ampel gehen. Einfach um sich zugehörig zu fühlen und nicht immer wie die deutsche Korrektheit in Person dazustehen. Spätestens mit einer Gruppe Franzosen wird sie nicht mehr zögern. Denn es gehört einfach dazu, in Frankreich mit Selbstverständlichkeit und einem gewissen Stolz bestimmte Regeln zu missachten. Vielleicht ist das auch noch ein Rest Revolutionsgeist, der sich in dieser Form im Alltag bemerkbar macht.
Katja hätte sich während des Essens stärker zurücknehmen und sich den Spielregeln, in diesem Fall der Herren, doch ein wenig mehr fügen sollen. Auch wenn ihr das schwerfiel. Wenn sie etwas zur gepflegten Konversation hätte beitragen wollen, hätte sie zum Beispiel darüber berichten können, wie es ihr in Frankreich gefällt (sehr gut natürlich!) und was sie besonders begeistert (vielleicht das Essen?). Denn hier ging es um das gute Verhältnis zweier Geschäftspartner, die erst dann über harte Fakten reden können, wenn sie sich ein bisschen aufgewärmt haben. Frühestens beim Nachtisch oder beim anschließenden Kaffee wird übers Geschäftliche gesprochen. Frei nach dem Motto: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Franzosen lieben eben das gepflegte, ästhetische und sinnliche Gespräch – ob beruflich oder privat (das werden wir im nächsten Kapitel sehen). Und davon könnten wir Deutschen uns hier und da auch eine Scheibe abschneiden.
37. Regen und Sonnenschein
Wie Katja an der hohen Kunst der Konversation scheitert
Paula lehnte sich gemütlich auf den Stufen vorSacré-Cœur zurück – Katja hatte eine Decke mitgebracht –, ließ ihren Blick über die Dächer von Paris schweifen und lauschte weiter ihrer deutschen Freundin.
»Seit zwei Wochen waren wir in der Normandie und es regnete und regnete«, erzählte Katja. »Längst hatte ich die Innenstadt von Rouen besichtigt, la ville aux cents cloches (die Stadt der hundert Glocken), mit ihren unzähligen Kirchen und der berühmten Kathedrale Notre-Dame de Rouen. Da musst du unbedingt mal hinfahren, Paula. Ich war besonders von den kleinen Gässchen beeindruckt, in denen man sofort ohne Umbauten einen historischen Mittelalterfilm drehen könnte. Ganze Straßenzüge stammen aus dem 13. und 15. Jahrhundert und faszinieren durch ihr farbiges Fachwerk. Obwohl sehr viel im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, besitzt Rouen noch ungefähr zweitausend mittelalterliche Fachwerkhäuser. Es ist fantastisch, sich ein wenig im Herzen dieser Stadt treiben zu lassen. Ich habe sogar den Turm bestiegen, auf dem sich le gros horloge befindet, eine große astronomische Uhr aus dem 14. Jahrhundert. Danach habe ich das sogenannte Pest-Beinhaus L’aître Saint-Maclou besichtigt, dessen Totentanzschnitzereien mir Gänsehaut bereitet haben. Kein Wunder, dass die Franzosen nicht besonders gut auf die Engländer zu sprechen sind: Bereits 1419 hatten diese die Stadt erobert, und auf der Place du vieux marché (Alter Marktplatz) ist noch der Stein zu sehen, auf dem die britische Krone am 30. Mai 1431 die französische Heilige Jeanne d’Arc verbrennen ließ. Ich konnte mir den Scheiterhaufen bildlich vorstellen, fast, schien mir, waren die Schreie noch zu hören. Und auch die Deutschen haben überall sichtbare Narben hinterlassen: Eine für Jeanne d’Arc errichtete Kirche aus dem 16. Jahrhundert wurde bei Bombenangriffen 1944 zerstört, doch die klugen Normannen haben vorher die originalen Kirchenfenster gerettet und in die neue Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc 1979 eingebaut. Als Deutsche habe ich mich doch ein bisschen komisch gefühlt, obwohl mir das gleichzeitig albern vorkam. Ich versuchte, meinen Akzent zu verbergen, wollte lieber als Holländerin durchgehen. Ich glaube, die Franzosen hätten den Unterschied wohl nicht mal bemerkt, aber na ja.
Zwischen all den kleinen Reisen in die Vergangenheit saß ich dann mit der Familie meines Mannes am Tisch, bei diesem schlechten Wetter viel und lang. Die Geselligkeit hat mir gefallen und auch das gute ausgiebige Essen. Nur wollte es mir einfach nicht gelingen, einen interessanten Beitrag zur allgemeinen Kommunikation beizusteuern. Es wurde über Tennis gesprochen und hauptsächlich übers Essen und das Wetter. Oder über Bekannte, die ich nicht kannte. Ich schwieg und manchmal langweilte ich mich. Und ich habe mich gefragt, ob es an mir lag, dass sich keiner traute, in meiner Gegenwart über politische Themen, über Umweltschutz oder berufliche Entscheidungen zu sprechen? Das war doch
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