Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
doller an zu jucken. Also muss ich ran, wenn er nichts macht. Dabei mach ich das lange nicht so gut wie er. Nicht so langsam und nicht so liebevoll.
Mich selber zu rasieren ist doof, weil ich auf dem Gebiet verwöhnt bin. Ich bin es gewohnt, rasiert zu werden. Ich finde, wenn Männer rasierte Frauen wollen, sollen sie auch das Rasieren übernehmen. Und nicht den Frauen die ganze Arbeit aufhalsen. Frauen wäre es doch ohne Männer ganz egal, wie sie behaart sind. Wenn beide sich gegenseitig so rasieren, wie sie es am hübschesten finden, dann ist es das beste Vorspiel, das ich mir vorstellen kann. Und jeder hat beim anderen genau die Frisur, die ihn am geilsten macht. Besser als sich alles voneinander zu wünschen und sich gegenseitig zu erklären. Gibt nur Ärger.
Bei mir geht das schroff zur Sache. Ich rasiere mich schnell, zackizacki, überall drüber, und reiß mir alles mit der Klinge auf. Danach blute ich meistens, und die ganzen offenen Rasierstoppeln entzünden sich. Wenn Kanell das sieht, schimpft er mich, weil ich so mit mir umgehe. Er kann das nicht leiden. Ich bin aber noch lange nicht so schroff zu mir selber wie die Person, die mich vor der Operation am Arsch rasiert hat.
Eine Krankenschwester kommt rein. Leider nicht Robin. Egal. Die kann ich auch fragen.
»Was ist, wenn ich Stuhlgang muss?«
So nennen die das doch immer. Je nachdem, mit wem ich spreche, kann ich mich auch gewählt ausdrücken.
Sie erklärt mir, dass es von Ärzteseite sogar erwünscht ist, so früh wie möglich zu kacken. Damit gar nicht erst eine Kackhemmung auftritt. Sie sagt, die Wunde soll mit täglichem Stuhlgang heilen, damit alles richtig zusammenwächst und auch fähig ist, sich zu dehnen. Die haben se nicht mehr alle. Sie sagt, gleich käme noch der Professor Notz, um mir das alles genau zu erklären. Sie geht raus. Und während ich auf den Notz warte, denke ich über die verschiedenen Mittel nach, mit denen man eine Verstopfung herbeiführen kann. Mir fallen viele Möglichkeiten ein. Da kommt Professor Dr. Notz rein. Ich begrüße ihn und gucke ihm dabei fest in die Augen. Das mache ich immer so, um den anderen einzuschüchtern. Da fällt mir auf, was für volle, lange Wimpern er hat. Das gibt’s doch gar nicht. Wieso ist mir das bisher nicht aufgefallen? Vielleicht war ich von meinen Schmerzen so abgelenkt. Je länger ich ihn angucke, desto länger und voller werden seine Wimpern. Er erzählt mir, glaube ich, wichtige Dinge über meinen Stuhlgang, meine Ernährung und meine Heilung. Ich höre kein bisschen zu und zähle seine Wimpern. Und mache zwischendurch Geräusche, die vorgaukeln sollen, dass ich genau zuhöre. Hmm, hmm.
Solche Wimpern nenne ich Augenschnurrbart. Das kann ich gar nicht leiden, wenn Männer schöne Wimpern haben. Bei Frauen regt es mich ja schon auf. Wimpern sind eins meiner großen Lebensthemen. Da achte ich bei jedem drauf. Wie lang, wie dicht, welche Farbe, gefärbt, getuscht, gebogen oder mit Schlafdreck verklebt? Viele haben die Spitzen auch hell und den Ansatz dunkel, sodass es nur so wirkt, als wären sie sehr kurz. Würde man solche Wimpern tuschen, sähen sie doppelt so lang aus. Ich selbst hatte viele Jahre meiner Kindheit keine Wimpern. Als ich kleiner war, hab ich sehr viele Komplimente bekommen wegen meiner langen dichten Wimpern, das weiß ich noch ganz genau.
Einmal hat eine Frau Mama gefragt, ob es nicht schlimm sei, wenn die eigene Tochter mit sechs schon vollere Wimpern hat als die Mutter, obwohl sie ihre offensichtlich biegt und tuscht. Mama hat immer zu mir gesagt, es gibt ein altes Zigeunersprichwort: Wenn man zu viele Komplimente für eine Sache bekommt, geht die irgendwann kaputt. Das war auch jedes Mal ihre Erklärung, wenn ich sie fragte, warum ich keine Wimpern mehr habe. Ich kann mich aber an ein Bild erinnern. Mitten in der Nacht werde ich wach, Mama sitzt auf der Bettkante, wo sie sonst Geschichten vorliest, hält mit einer Hand meinen Kopf fest, und ich spüre kaltes Metall an meinen Augenlidern entlangfahren. Schnipp. An beiden Augen. Und Mamas Stimme, die sagt: »Alles nur ein Traum, mein Kind.«
Mit den Fingerspitzen hab ich die Wimpernstoppeln immer betastet. Wenn Mamas Geschichte von den Zigeunern stimmen würde, dann wären die doch wohl ganz ausgefallen. Ich kann das Mama aber auch nicht anhängen, weil ich oft Realität, Lüge und Traum durcheinanderwerfe. Vor allem heute kann ich vieles nicht mehr auseinanderhalten, wegen den ganzen Jahren, in denen ich
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