Feuer der Götter: Roman (German Edition)
eingestürzt. Die Menschen hatten sie verlassen, und die prächtigen Mauern verschwanden unter den Schlammschichten, die weitere Überschwemmungen herantrugen. Mehr wusste man über diese Zeit nicht. Nur dass irgendwann andere Menschen gekommen waren und begonnen hatten, auf dem Schutt ihre Hütten zu errichten. Doch in der Tiefe hatten die Ruinen die Zeit überdauert.
Man hatte im Laufe der Zeit Gänge durch die alten Räume gegraben, auf der Suche nach verwertbaren Dingen. Man erzählte sich, es habe manch Glücklichen gegeben, der Schmuck oder eine kostbare Götterstatue entdeckt und sich mit dem Erlös woanders ein besseres Leben erkauft hatte. Die anderen hatten Räume, ganze Wege freigelegt und abgestützt, um darin zu hausen. Und das taten nur die Ärmsten. Wenn es regnete, liefen die unterirdischen Kammern manchmal voll bis zu den Knöcheln. Es stank muffig; alles verdarb. Überall wucherte der gelbe Fadenpilz, der dafür sorgte, dass viele krank wurden. Ständig hörte man jemanden erbärmlich husten. Und die Düsternis legte sich einem aufs Gemüt.
Naave schob sich durch das Gedränge der Hütten und des Abschaums der Stadt. Hier unten war jeder ein Gesetzloser. Sie kletterte über niedrige Verschläge, kämpfte sich durch Spalten und Lücken, wich knurrenden Hunden und ihren Hinterlassenschaften aus und gelangte in einen Raum, der so groß war, dass man ihn eine Halle nennen konnte. In der Mitte hockte eine Familie um ein kleines Kochfeuer, an den Wänden standen Hütten, vor denen ihre Bewohner lungerten. Hier und da erhaschte Naave einen Blick, der besagte: Ist das nicht die Fischerin, von der man sagt, sie wäre im Tempel verschwunden? Aber niemand sprach Naave an, als sie unter aufgespannter Wäsche und zwischen einer Gruppe würfelnder Jungen hindurchlief, bis in die hinterste Ecke. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie jetzt hoffen musste, ihre Hütte, die sie doch eigentlich verabscheute, überhaupt noch betreten zu können. Was, wenn man sie weitervermietet hatte? Doch das schiefe Stück Holz, das eine Tür darstellte, war nicht verriegelt. Naave zog es auf, schlüpfte hindurch und schob den hölzernen Riegel vor.
Endlich allein, endlich in Sicherheit. Soweit man irgendeinen Raum im Graben sicher nennen konnte.
Alles war, wie Naave es zurückgelassen hatte. Was hätte sich auch ändern sollen? Es gab hier nur eine Hängematte mit einer zerschlissenen Decke darauf. Einen Bretterkasten, in dem sie ein wenig Tongeschirr aufbewahrte. Einen weiteren mit einem Brotrest. Naave wappnete sich gegen den Anblick eines grünbepelzten Wesens, das den Kasten bis zur Gänze ausfüllen würde, und hob den Deckel. Doch statt Schimmel fanden sich nur ein paar Krümelreste und Mäusekot.
Sie schüttelte die Decke aus, breitete sie auf der Hängematte aus, prüfte deren Schnüre und warf sich hinein. Die Bretter des Verschlags, an dem sie befestigt war, ächzten. Naave kreuzte die Arme im Nacken und sah zur Hallendecke hinauf.
Im matten Schein des Kochfeuers erblickte sie die Sonne und den Bogen der vierzehn Monde. Die vier roten, die vier blauen, die drei weißen und drei grauen, alle von unterschiedlicher Größe. Das gemalte Himmelsgewölbe war von Szenen aus dem Stadtleben umrahmt, mit denen man einst die Wände verziert hatte: Frauen auf den Feldern und auf den Marktplätzen; Männer vor dem Tempel beim Blutopfer; Krieger oder Wächter im Kampf gegen Waldmenschen, die als grünhäutige Dämonenwesen dargestellt waren. Und dazwischen, größer dargestellt, die vierzehn Götter in all ihrer Pracht. Nur den Gott-Einen hatte man nicht darzustellen gewagt. Die Farben waren verblasst; die Figuren teils nicht kenntlich. Aber Tique, ja, den fand Naave mühelos hinter all dem Dreck und den rußgeschwärzten Spinnweben.
Deshalb, so fand sie, war dieser Ort, wenn man schon im Graben hausen musste, der einzig erträgliche. Wie oft hatte sie sich gefragt, wie es damals wohl hier ausgesehen hatte, als die Farben noch frisch gewesen waren. Hatte hier in dieser Halle eine reiche Händlerfamilie getafelt? Oder hatte man hier das Handelsgut gelagert? Was mochte es gewesen sein? Schöne und aufregende Dinge aus dem Wald? Naave wusste ja inzwischen, dass es möglich war, mit den Waldmenschen zu handeln. Vielleicht hatte man hier sogar freundschaftlich zusammengesessen und sich Geschichten erzählt.
Naave warf sich auf die Seite und hüllte sich in die Decke ein, obwohl es hier unten nicht kühl war. Sie hatte geglaubt,
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