Feuer der Leidenschaft
erlernen zu müssen. Ihr müßt mir also Eure Kenntnisse auf diesem Gebiet erst beweisen. Kommt!« Er ging zu einer Doppeltür in der Hinterwand des Salons. Und als er diese öffnete, gab sie den Blick in sein eigentliches Atelier frei. Kenneth folgte Seaton in diesen Raum hinein und blieb nach ein paar Schritten mit angehaltenem Atem plötzlich stehen. Direkt vor ihm befand sich die riesige Leinwand von Sir Anthonys berühmtestem Gemälde.
»Erkennen Sie das, Captain Wilding?« fragte Seaton.
Kenneth schluckte, um seinen trockenen Mund anzufeuchten. »Jeder in Britannien hat vermutlich einen Druck von >Horatius an der Brücke< gesehen. Aber keine Schwarz-Weiß-Kopie könnte auch nur annähernd diesem Meisterwerk gerecht werden. Es ist großartig.« Kenneths Blick wanderte ehrfürchtig über das Gemälde hin, dessen linke Seite von der Figur von Horatius beherrscht wurde.
Hinter dieser ragte die Brücke auf, die über den Tiber führte, und an dessen entferntem Ende waren die winzigen Gestalten zweier römischer
Männer fieberhaft damit beschäftigt, deren Träger zu ; kappen, damit die Feinde den Fluß nicht überqueren konnten. Im Vordergrund stürmte ein Trupp wilder Krieger auf die Brücke zu, und Horatius war der einzige, der sich dieser Horde in den Weg stellte.
»Erzählt mir etwas über dieses Bild«, befahl Sir An-! thony.
Da Kenneth nicht wußte, was der Maler von ihm hören wollte, sagte er vorsichtig: »Technisch ist es brillant - in der Zeichnung und Linienführung Jaques-Louis David ebenbürtig.«
»Nicht ebenbürtig, sondern diesem weit überlegen«, schnaubte Seaton. »David ist doch nichts anderes als ein weitgehend überschätzter französischer revolutionärer Kleckser.«
Falsche Bescheidenheit würde man Seaton wohl nicht vorwerfen können, dachte Kenneth, ehe er fortfuhr: »Die Stärke des Gemäldes liegt in seiner Komposition. So geht von dem Winkel, den das erhobene Schwert von Horatius bildet, eine große Spannung aus. Die Diagonale beherrscht das Bild und erfüllt es mit Leben.«
Von dem zustimmenden Nicken des Künstlers ermutigt, fuhr Kenneth fort: »Ich habe einmal eine andere Behandlung dieses Sujets gesehen, in der Horatius als erfahrener Krieger dargestellt ist. Aber die Tatsache, daß Ihr ihn zu einem Jüngling gemacht habt, verleiht dem Gemälde eine besondere dramatische Schärfe. Man sieht diesem Horatius an, daß er Angst hat, weil er noch nie in einen Kampf verwickelt gewesen war. In seinen Augen spiegelt sich ein schreckliches Bedauern, daß er möglicherweise getötet werden könnte, bevor er wirklich gelebt hat. Doch man sieht an jeder Linie seines Körpers, daß er nicht weichen und wanken wird — egal, was ihn das kostet.«
»Sehr gut, Captain«. Sir Anthonys Blick wanderte von dem Gemälde zu Kenneth. »Und welche Bedeutung, meint Ihr, liegt diesem Gemälde zugrunde?«
Wenn das ein Test sein sollte, war es nicht schwierig, diesen zu bestehen. »Ihr habt den antiken historischen Stoff von Horatius als eine Parallele für Britannien verwendet, das sich ganz allein gegen die Franzosen behaupten mußte. Ein plumperer Maler hätte vermutlich dem Anführer der heranstürmenden Feinde das Antlitz von Napoleon verliehen; aber Ihr habt in diesem Gemälde nur einen subtilen Hinweis auf Bonaparte gegeben -gerade stark genug, den Betrachter an die Franzosen denken zu lassen, ohne daß er weiß, warum.«
»Wie man mir sagte, sollen mehr Drucke von diesem Gemälde verkauft worden sein als von jedem anderen britischen Bild in der Geschichte der Malerei.« Sir Anthonys Blick ruhte nun wieder nachdenklich auf seinem Werk. »Die Historienmalerei ist die schönste Blüte der Kunst. Sie ist erhebend, von erzieherischem Wert. Eine Inspiration für den Betrachter. Ich wünschte bei Gott, daß ich all meine Zeit auf solche Gemälde verwenden könnte. Aber wenn ich das täte, müßte ich verhungern.«
Der Maler schwenkte auf den Absätzen herum und kehrte in das Studio zurück. »Alles, wonach der durchschnittliche Engländer verlangt, sind Porträts und Landschaften. Was für eine Schande!«
Er führte Kenneth nun zu einer Staffelei in einer Ecke des Studios, auf dem ein von einer Sackleinwand verdecktes Bild stand, die er nun mit einem Ruck entfernte, um ein fast vollendetes Familienporträt von einem hübschen Mann mit einem habichtartigen Gesicht und dessen lieblicher goldhaariger Gattin zu enthüllen, zwischen denen ein kleiner Junge stand, der mit einer Hand die seiner Mutter
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