Feuer der Lust - Page, S: Feuer der Lust
um sich aus dem Haus fortzustehlen, das Venetia und Marcus in Brighton gemietet hatten. Ihre beiden Schwestern, Maryanne und Venetia, waren so beschäftigt mit ihren Kindern und dem gesellschaftlichen Leben in der Stadt am Meer, dass sie tatsächlich nichts von ihrer Abreise bemerkt hatten.
Sie glaubten, sie befinde sich auf einer Gesellschaft im Haus von Lady Prudence in der Nähe von Worthing. Dass Prudence sie verachtete, wussten ihre Schwestern nicht. Wie auch immer, sie hatte den Kutscher und einen Pferdeknecht bei sich, sodass Maryanne und Venetia keinen Grund hatten, sich Sorgen um sie zu machen.
Grace hob den Brief und wiegte ihn in ihren Händen.
Warum hatte sie ihren Schwestern nicht einfach die Wahrheit gesagt?
Nun da sie die Schwägerin zweier reicher, mächtiger Edelmänner war, bewegte sie sich in einer anderen Welt als zuvor – sie lebte in derselben Welt wie die Countess of Warren. Dreimal war sie ihrer Großmutter begegnet: bei Lady Chatsworths Hauskonzert, wo sie gesehen hat, wie schön ihre Großmutter mit ihrem hochgesteckten silbernen Haar und ihrem aristokratischen Profil noch immer war; dann im Theater, wo Grace sich sicher gewesen war, dass ihre Großmutter ihr Opernglas auf Marcus’ Loge gerichtet und versucht hatte, einen Blick auf ihre Enkelinnen zu erhaschen; und ein weiteres Mal auf Lady Collings’ Ball, dem wichtigsten gesellschaftlichen Ereignis der Saison für unverheiratete junge Damen. Einen flüchtigen Moment lang war Grace sich sicher gewesen, dass ihre Großmutter ihr quer durch den Ballsaal zugelächelt hatte. Sie hatte überrascht geblinzelt, nur um herauszufinden, dass der kurze Augenblick schon wieder vorüber und ihre Großmutter aufgestanden und gegangen war.
Und nun der Brief.
Jedes Mal, wenn sie ihn las, stieg ein anderes Gefühl in ihr auf. Hoffnung. Angst. Glück. Aufregung. Reines Grauen.
Sie war eine Hamilton, und sie musste die Familientradition aufrechterhalten und Angst und Schrecken die Stirn bieten.
Allerdings nicht der Angst, ihre Schwestern in ihre Pläne einzuweihen.
Grace klopfte gegen das Dach der Kutsche, um dem Kutscher – er war einer von Marcus’ besten Männern – das Zeichen zu geben, schneller zu fahren. Es hatte zu ihrem Kummer schon viel zu viele Verzögerungen gegeben, die damit zusammenhingen, dass sie ein ganzes Lügengespinst hatte erschaffen müssen. Zunächst lauerte Venetia ihr auf, um ihr zahlreiche Fragen zu stellen; dann fragte Maryanne sie geradeheraus, warum sie vorhatte, zu Lady Prudence zu fahren, obwohl sie in der Öffentlichkeit nicht einmal miteinander zu sprechen schienen.
Doch dann waren ihre beiden Schwestern von ihren Kindern abgelenkt worden. Maryannes Baby, Charles, hatte sich als eigensinniges, von Koliken geplagtes Wesen entpuppt, das nur Ruhe gab, wenn Maryannes Ehemann es auf seinen breiten Schultern herumtrug. Seine bedauernswerte Lordschaft konnte sich nicht einmal zwischendurch hinsetzen, ohne dass das Baby anfing zu weinen.
Und Venetia hatte angekündigt, dass sie ein weiteres Kind erwartete, obwohl ihr erstes, der Titelerbe, erst sechs Monate alt war, was natürlich den Glauben widerlegte, Stillen würde eine weitere Schwangerschaft verhindern.
Doch das gehörte mittlerweile zu den Dingen, die Grace niemals erleben würde.
Die Kutsche schwankte, und Grace wurde zurück ins Hier und Jetzt gerüttelt. Sie fuhren eine ruhige, wenig benutzte Straße entlang, und sie lehnte sich zurück, um den Brief ihrer Großmutter zusammenzufalten. Sie hatte ihn schon fast wieder in ihrem Retikül, einer kleinen Handtasche, verstaut, als der Wagen plötzlich ins Rutschen geriet, und der Kutscher laut aufschrie.
Der Inhalt des Täschchens verteilte sich auf dem Boden der Kutsche, und Grace klammerte sich mit aller Kraft an ihren Sitz. Die Räder schlidderten über den trockenen Staub, und die Pferde wieherten in Panik. Als die Kutsche sich um ihre eigene Achse drehte, hielt Grace die Luft an.
Der Wagen würde umfallen!
Als die Kutsche erst nach rechts kippte und dann wieder zurück auf die linken Räder fiel, biss sie sich heftig auf die Unterlippe, die sofort anfing zu bluten.
„Himmelherrgott!“, brüllte der Kutscher, und die Pferde stießen protestierende Laute hervor.
Nun schaukelte die Kutsche wild von einer Seite zur anderen, und Grace wurde zu Boden geworfen. Ihre Knie krachten hart auf die Bretter, und sie stieß mit der Stirn gegen den Sitz.
Sie rollte sich zusammen und betete, dies möge die beste
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