Feuer der Rache
habe ich sie ja auch kaum zu Gesicht bekommen, während sie dieses Internat besuchte. Aber auch danach. Man konnte sie vergessen oder übersehen, selbst wenn sie mit am Tisch saß. Ich kann mich kaum daran erinnern, dass ich mit ihr gesprochen hätte -und wenn, dann hat sie auf eine direkte Frage geantwortet, und zwar so kurz, wie es nur ging. Dabei war sie nicht unhöflich. Wenn man ihr etwas auftrug, erledigte sie es sofort."
„War das schon immer so?"
Frau Reichmann überlegte. „Nein, als Kind war sie lebhafter und strahlender. Das kam erst mit der Pubertät. Da werden die Mädchen ja oft sehr eigenartig!"
„Ja, nur meistens legt sich das nach ein paar Jahren wieder."
Die Apothekerin nickte. „Meistens."
Sabine erhob sich. „Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Ach, was ich Sie noch fragen wollte. Was für eine Ausbildung hat Aletta eigentlich gemacht? So wie ich das verstanden habe, ist sie zurzeit arbeitslos."
„Sie hat gar keine Ausbildung gemacht", schnaubte ihre Mutter. „Von einem Studium will ich nicht einmal reden. Das hat sie sich ja frühzeitig verbaut!"
„Warum? Ich dachte, sie ging aufs Gymnasium? Hat sie das Abitur nicht geschafft?"
„Nein, hat sie nicht. Sie meinte in der neunten Klasse, sich ihrem Hexenkram widmen zu müssen, und hat so lange meine Ermahnungen in den Wind geschlagen, bis sie sitzen blieb. Sie wollte auf die Gesamtschule wechseln und machte ein solches Theater, dass mein Mann einwilligte! Ich hätte nicht nachgegeben. Diese Launen haben sie ihr Medizinstudium gekostet. Glauben Sie mir, sie hätte den Grips dazu!"
„Haben Carmen und Maike zufällig auch die Schule gewechselt?"
„Ja, das war doch das Drama. Sie mussten schon ein Jahr vorher das Gymnasium verlassen. Und da haben die beiden Aletta sicher den Floh ins Ohr gesetzt, dass es gut wäre, wenn auch sie zur Gesamtschule rüberwechseln würde. Maike hat, soviel ich weiß, nicht einmal ihren Hauptschulabschluss geschafft!"
„Und da, glauben Sie, hat Aletta beschlossen, absichtlich sitzen zu bleiben?", fragte Sabine ein wenig ungläubig.
Frau Reichmann hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Wir hatten oft Krach miteinander, aber sie wollte nicht mit mir reden. Sie sagte immer, ich könne das nicht verstehen. Und damit hat sie vielleicht recht. Ich meine, wie kann man so etwas Verrücktes verstehen? Sie hätten doch trotzdem Freundinnen bleiben können. Die Schulen sind kaum zwanzig Minuten voneinander entfernt!"
Auf der Rückfahrt in der S-Bahn überlegte Sabine sich, ob sie bei Michael vorbeigehen oder nur anrufen sollte. Ein Blick in den heimischen Badezimmerspiegel entschied die Sache. Nein, diese roten Kratzer, die sich in Dreierlinien über Hals und Schulter und am Dekollete entlang bis über den Busen zogen, würden seine Laune sicher nicht heben und Sabine peinliche Momente bescheren. So tippte sie nur seine Nummer ein und hörte mit Erleichterung, dass er sich fit genug fühlte, seine Arbeit morgen wieder aufzunehmen.
Sabine mochte Friedhöfe, vor allem die riesige Parkanlage von Ohlsdorf, Beerdigungen allerdings gehörten nicht zu ihren Lieblingsveranstaltungen.
Sie stand an diesem Morgen früh auf und musterte ratlos den Inhalt ihres Kleiderschranks. Sie war keine Angehörige der Verstorbenen, daher war ein schwarzes Kostüm sicher übertrieben. Andererseits wollte sie in der düsteren Gesellschaft nicht durch bunte Kleidung auffallen.
Sie entschied sich für eine schwarze Jeans, einen schwarzen Kurzarmbody und eine silbergraue Bluse, die sie offen darüber trug. Anders als in Fernsehfilmen, in denen es bei Beerdigungen gewöhnlich in Strömen regnete, hatte Blankenese beschlossen, heute einen warmen Frühsommertag zu präsentieren. Sabine beeilte sich. Sie wollte rechtzeitig da sein und die ankommenden Trauergäste beobachten.
Die Kommissarin parkte ihren Passat in einem Seitenweg, überquerte die Sülldorfer Landstraße und passierte den offenen Flügel des dreigeteilten, schmiedeeisernen Tores. Eine Tafel am Verwaltungsgebäude zu ihrer Linken verriet, dass die Trauerfeier erst in einer Stunde beginnen sollte. So schlenderte Sabine zwischen den Gräbern hindurch, las die Namen und Daten und überlegte, was für Schicksale sich dahinter verbergen mochten. Viele der Gräber waren alt. Schwere Findlinge mit verwitterter Schrift sahen auf die mit Storchenschnabel oder Pachysandra überwucherten Grabstätten herab, die sich unter alten Bäumen und Rhododendren dahinzogen. Nur wenige Blumen
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