Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
System ausgeschaltet. Sie wird innerlich vollkommen taub. Als ginge sie das alles gar nichts an, als ginge es um eine andere Vanessa. Das ist schön.
»Ich hatte solche Angst, dass du es rausfindest«, heult Wille. »Ich dachte, jetzt ist es so weit. Du hast keine Ahnung, wie beschissen ich mich gefühlt habe!«
Er lässt die Hände sinken. Sein Gesicht ist ganz rot.
»Warum erzählst du mir das?«, fragt sie.
Denn wenn sie im Moment überhaupt irgendetwas fühlt, dann, dass sie nichts davon wissen will.
»Ich wollte nur ehrlich sein.«
»Ehrlich? Wäre es nicht ehrlicher gewesen, darauf zu verzichten, hinter meinem Rücken eine andere zu poppen?«
»Doch«, schnieft Wille. »Aber frag, was du willst, und ich antworte.«
»Ist es nur ein Mal passiert?«
Wille zögert. Das ist Antwort genug.
»Wie oft?«, fragt sie.
»Zwei Mal. Nur zwei Mal. Ein Mal im Winter. Als du gerade hier ausgezogen warst«, sagt Wille. »Das zweite Mal letzten Samstag.«
»Im Götvändaren?«
Er nickt.
Plötzlich ist alles so sonnenklar, dass sie sich fragt, wie sie es bislang übersehen konnte.
»War es beide Male dasselbe Mädchen?«
»Ich werde sie nie wiedersehen«, sagt Wille. »Versprochen. Ich gehe nicht mal ran, wenn sie anruft.«
»Wie bitte? Sie hat deine Nummer?«
»Ich war voll«, sagt Wille. »Es hatte keine Bedeutung.«
»Und wieso hast du es dann zwei Mal gemacht?«
Vanessa rappelt sich hoch. Sie fühlt sich ganz wackelig auf den Beinen, aber sie muss hier weg. Jetzt.
»Verzeih mir, Nessa, bitte, geh nicht.«
»Ich will nur noch eins wissen.«
»Alles, was du willst«, sagt er und steht auf, macht Anstalten, auf sie zuzugehen.
Sie weicht in die Diele zurück.
»Wie heißt sie?«
Sag nicht Linnéa, denkt sie. Nicht Linnéa, nicht Linnéa.
»Elin«, antwortet Wille. »Sie ist älter. Du kennst sie nicht.«
Vanessa nickt stumm. Fühlt sich fast lächerlich erleichtert.
»Bitte, Nessa …«
Sie nimmt ihren Ring ab und fragt sich, was sie damit machen soll. Ihm vor die Füße werfen, wie in einem schlechten Film?
»Ich mache alles, was du willst, aber verlass mich nicht!«, schluchzt er.
Sie lässt den Ring auf den Boden fallen. Er rollt weg und verschwindet unter der Dielenkommode.
Dann geht sie.
Die Sonne ist fast untergegangen. Der Himmel hinter Familie Holmströms Haus leuchtet hellrot und violett.
»Verdammterscheißdrecksapparat!«
Idas Vater tritt gegen den Rasenmäher, der stumm und unbeweglich mitten auf dem Rasen steht.
»Hallo«, sagt Ida und schiebt ihr Fahrrad in die Garage.
»Hallo«, sagt Papa müde und beugt sich über die Maschine. »Wie war es in der Schule?«
»Wie immer«, sagt Ida.
Papa brummt abwesend und fängt an, im Grasbrei herumzustochern, der sich in den Messern festgesetzt hat.
Ida sieht plötzlich vor sich, wie der Motor startet und Blut über den Rasen spritzt, während die Hände ihres Vaters zu Hackfleisch verarbeitet werden.
Sie blinzelt. Papa hockt immer noch da und stößt murmelnd Drohungen aus. Auf seinem Hemd verläuft ein länglicher Schweißfleck entlang der Wirbelsäule.
Es war nur Einbildung. Ein Zwangsgedanke. Oder? Ida kann nicht in die Zukunft sehen, ihre Visionen zeigen immer nur die Vergangenheit. Bis jetzt.
Sie lässt ihr Rad auf den Garagenboden fallen und rennt auf direktem Weg in ihr Zimmer im ersten Stock. Dort schließt sie die alte Aussteuertruhe auf, die am Fußende ihres Bettes steht, und nimmt das Buch der Muster und den Musterfinder heraus.
Sie wirft sich auf den Teppichboden, schlägt das Buch auf und konzentriert sich, die Augen dicht an die glänzende Silberlupe gepresst. Dreht an den Segmenten.
War das eben eine Zukunftsvision? Wird diese Sache mit Papa und dem Rasenmäher passieren?
Die Zeichen auf der Seite zittern. Manche verschwimmen wie Tinte im Wasser. Andere treten deutlicher hervor, bilden ein Muster. Als Ida gelernt hat, das Buch zu deuten, war es, als bekäme sie Zugang zu einem ganz neuen Alphabet, mit neuen Wörtern und neuen Bedeutungen. Die Botschaften erreichen sie nicht wie Buchstaben. Sie kommen direkt in ihr Gehirn. Manchmal sind sie völlig unverständlich.
Aber jetzt ist die Antwort des Buchs eindeutig.
Nein
.
Die Erleichterung ist gewaltig. Ida will das Buch gerade zuklappen, als die Zeichen wieder zittern.
Die Zukunft ist nicht sicher
.
Ida runzelt die Stirn. Konzentriert sich auf die aufgeschlagene Seite.
Was meinst du?
, antwortet sie.
Ist gar nichts sicher? Ist nicht mal sicher, dass die
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