Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Grab zu öffnen, nur um zu Hause wegzukommen.
Aber sie muss warten, bis ihre Eltern schlafen.
Sie öffnet die Schublade in ihrem Nachttisch und nimmt das Buch der Muster und den Musterfinder heraus. Vielleicht ist es kaputt, aber sie weigert sich aufzugeben.
Sie fährt mit den Fingern über den schwarzen, zerschlissenen Ledereinband, aus dem zwei Kreise ausgestanzt sind, ein kleinerer in einem größeren. Sie schlägt das Buch auf und blättert vorwärts, während sie sich auf ihre Frage konzentriert.
Was ist meine Kraft?
Sie hält den Musterfinder ans Auge und fängt an, die verschiedenen Segmente zu drehen.
Was ist meine Kraft?
Etwas huscht durch ihr Bewusstsein. Sie fixiert die Seite. Wartet. Aber nichts passiert.
Linnéa folgt dem beleuchteten Weg, der zum Friedhof führt. Sie lauscht den Geräuschen der Nacht. Grillen, die im trockenen Gras zirpen. Das entfernte Rattern eines Zuges, der auf dem Weg nach Süden vorbeifährt.
Und dann ist plötzlich etwas hinter ihr. Ein Schlurfen auf dem Asphalt.
Linnéa dreht sich um.
Niemand.
Aber sie war so sicher, etwas zu hören.
Linnéa fokussiert ihre Magie. Es ist einfacher, Gedanken aufzuschnappen, wenn sie weiß, wen sie zu lesen versucht, trotzdem streckt sie ein paar Fühler in die Schatten aus.
Nichts.
Linnéa dreht sich um und hastet weiter.
Noch ist niemand am Friedhof angekommen. Sie setzt sich auf die Mauer und wartet, schaut in den sternenklaren Augusthimmel.
Sie denkt an die vielen Nächte mit Elias, in denen sie zu den verlassensten Orten in Engelsfors gewandert sind. Sie konnten stundenlang miteinander reden. Elias hat ihr nie irgendwelche superguten Ratschläge gegeben, dennoch fühlte sich mit ihm alles viel leichter an. Er war der Einzige, der sie weinen sehen durfte. Der Einzige, der sie trösten durfte. Und sie brauchte ihn – genauso wie er sie. Sie sehnt sich danach, gebraucht zu werden.
Wenn er doch nur hier wäre. Wenn sie ihm doch nur erzählen könnte …
Linnéa versteinert, als sie Vanessas Energie spürt. Kurz darauf taucht eine helle Gestalt vor ihr auf.
Linnéa steht auf. Die Gedanken rauschen durch ihren Kopf. Den ganzen Sommer über hat sie darauf gehofft, einen Moment mit Vanessa alleine zu sein. Aber jetzt, wo der Augenblick da ist, weiß sie nicht, was sie damit anstellen soll.
»Hi«, sagt sie und geht Vanessa entgegen.
Vanessa wird langsamer und bleibt stehen. Ihre Augen sind feucht, umrahmt von verschmierter Wimperntusche.
»Hi«, murmelt sie.
Linnéa würde sie am liebsten berühren, sie in den Arm nehmen und trösten.
»Was ist passiert?«, sagt sie.
»Ich will nicht darüber reden.«
Doch Linnéa hat es schon gesehen. Der schmale Verlobungsring ist weg.
»Hast du mit Wille Schluss gemacht?«
Sie bereut die Frage auf der Stelle. Aber es ist zu spät. Vanessas Blick wird hart.
»Kannst du bitte aufhören, in meinem Hirn rumzustochern?«
Linnéa könnte das mit dem Ring erklären, klarmachen, dass sie Vanessas Gedanken gar nicht lesen brauchte, aber sie ist viel zu wütend. Vanessa hat sich ja längst eine Meinung gebildet.
Wenn Vanessa eine Ahnung hätte, wie anstrengend es ist, ihre Gedanken nicht zu lesen. Dieser Versuchung zu widerstehen, obwohl Linnéa so vielleicht herausfinden könnte, was Vanessa im Innersten für sie empfindet, ob sie überhaupt eine Chance hat …
»Man muss wohl kaum Gedanken lesen können, um vorherzusehen, dass das mit euch nicht gut gehen würde«, hört Linnéa sich selbst sagen.
Vanessa starrt sie an. Dann dreht sie sich auf dem Absatz um. Linnéa sieht gerade noch, dass sie wieder weint.
Verdammt, verdammt, verdammt, warum musste sie so dumm sein?
Linnéa ballt die Faust, bis sich ihre Fingernägel in die Handfläche bohren. Das war ihre Chance, mit Vanessa zu reden, aber sie hat alles kaputt gemacht. Wie immer. Alles, was sie anfasst, macht sie kaputt.
Vanessas Schultern beben und jedes Schluchzen versetzt Linnéa einen Stich. Sie hasst es, sich zu entschuldigen, aber jetzt will sie es so lange tun, bis es im ganzen Universum kein »Entschuldigung« mehr gibt.
Plötzlich wird Vanessa still. Minoo und Anna-Karin kommen. Gemeinsam tragen sie eine große Sporttasche und hinter ihnen geht Ida mit einem Spaten in der Hand.
Minoo und Anna-Karin schauen Vanessa fragend an, als sie näher kommen.
Ida lächelt gehässig. Es ist dasselbe Lächeln wie früher, wenn Erik Forslund, Robin Zetterqvist und Kevin Månsson über Elias herfielen. Dasselbe Lächeln, mit dem sie
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