Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Sie ist tot … Sie ist wirklich tot …
»Wie geht es Ihnen eigentlich?«, sagt Linnéa
»Gut, gut. Nur ein bisschen müde.«
Jakob wirkt ertappt, und nach seinem nächsten Gedanken muss sie nicht suchen, er kommt von alleine.
… verdammt, verdammt, verdammt, sie durchschaut mich einfach, es ist wie in meinem schlimmsten Albtraum, in dem die Kinder genau wissen, was ich denke …
»Wieso fragst du, wie es mir geht?«, sagt er, und seine Stimme hat einen aggressiven Unterton, der ihm vermutlich nicht bewusst ist.
»Darf ich mich denn nicht danach erkundigen?«
Jakob räuspert sich. Er versucht unübersehbar, wieder in seine Psychologenrolle zurückzufinden.
»Doch, natürlich«, sagt er und sein Blick flackert. »Ich meine … Dich scheint etwas zu beschäftigen. Gibt es etwas, worüber du mit mir sprechen möchtest?«
Linnéa kann sich selbst nicht mehr denken hören.
Jakobs Gedanken füllen ihren ganzen Kopf aus.
Seine Kollegin ist gestorben, dieselbe Kollegin, mit der er vor einem Jahr seine Frau betrogen hat, und jetzt bereut er alles, was er ihr nie gesagt hat, alles, was er nie getan hat, er erinnert sich an jeden Moment, den sie zusammen verbracht haben. Momente, die Linnéa definitiv nicht sehen will.
In jedem Menschenleben bleibt so viel unter der Oberfläche verborgen. Linnéa hatte keine Ahnung
wie
viel, bis sie die Fähigkeit bekam, Gedanken zu lesen. Seit sie einen Einblick in den Schmerz und die dunklen Geheimnisse anderer bekommen hat, fühlt sie sich bedeutend weniger ungewöhnlich. Aber jetzt, in dieser Situation, würde sie gerne darauf verzichten.
Sie sagt, dass sie ganz allgemein Zukunftsangst hat, und redet routinemäßig weiter. Jakob hört kaum zu. Aber es gelingt ihr wenigstens, sich für die restliche Zeit aus seinem Kopf rauszuhalten.
Es ist Freitag, letzte Stunde. Minoo fällt es schwer, sich in dem überhitzten Klassenzimmer zu konzentrieren. Es geht nicht nur ihr so. Die anderen Schüler hängen mit schweißglänzenden Gesichtern über den Tischen, tuscheln und ignorieren Ylvas Versuche, ihnen die Freuden der Geometrie näherzubringen. Die Luft steht vor unangenehmen Gerüchen. Schweiß, feuchter Stoff und – ausgehend von Hanna A., die vor Minoo sitzt – viel zu viel Parfüm auf warmer Haut.
Hanna A. lehnt sich auf dem Stuhl zurück, Minoo hält die Luft an und macht dasselbe.
Sie denkt an Hannas Schrei im Chemiesaal. Seit dem Mittwoch, an dem der Vorfall sich ereignete, ist Viktor nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Minoo kann sein Lächeln, als Kevin die Säure abbekam, nicht vergessen. Wer findet so etwas lustig?
Ylva zeichnet ein Dreieck an die Tafel und dreht sich um.
»Seid endlich leise«, sagt sie.
Ihre Brille ist an der Nasenwurzel beschlagen.
»Können wir nicht draußen weitermachen?«, fragt Kevin und vereinzelt werden ein paar zustimmende Rufe im Klassenzimmer laut. »Ich lade Sie auch auf ein Eis ein. Eine grooooße Tüte.«
Gekicher ist zu hören und Ylvas Wangen werden noch röter. Sie stemmt die Hände in die Hüften und sieht Kevin durchdringend an. Minoo hat den Eindruck, dass Ylva vor dem Spiegel geübt hat, Respekt einflößend auszusehen. Es hat nicht viel geholfen.
»Ach, kommen Sie schon, es ist so warm, dass man nicht denken kann«, fährt Kevin fort.
Ylva verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Außerdem ist bald Wochenende …«, sagt Kevin.
»Es reicht!«, brüllt Ylva. »Raus mit dir!«
Sie zeigt zur Tür. Ein großer Schweißfleck von der Form Grönlands wird unter ihrem Arm sichtbar.
»Er hat doch gar nichts gemacht«, sagt Hanna A.
»Ich wollte Sie doch nur auf ein Eis einladen«, sagt Kevin feixend.
»Raus!«
Es wird ein Urschrei. Minoo bildet sich ein zu sehen, wie Grönland noch größer wird.
Kevin steht auf und geht. In der Tür dreht er sich um und winkt mit seiner bandagierten Hand. Ylva geht zu ihm und schiebt ihn mehr oder weniger raus. Dann schließt sie die Tür.
»Gott, die ist ja total hysterisch«, flüstert jemand laut.
Ylvas Blick irrt gehetzt durch das Klassenzimmer, aber es gelingt ihr nicht, den Schuldigen ausfindig zu machen.
»Bis zum Ende der Stunde rechnet jeder für sich«, sagt sie und setzt sich ans Pult.
Minoo starrt ihren karierten Block an. Ylvas Anfall ist ihr furchtbar peinlich. Sie will gar nicht an den Rest des Schuljahres denken. Ein schwacher Lehrer bekommt seine Klasse nie in den Griff. Aber ein schwacher
und
leicht zu provozierender Lehrer sorgt für noch mehr
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