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Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Titel: Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susannah Calahan
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Tagebucheinträgen im Krankenhaus erscheint, die eher so etwas wie das Hirngespinst eines schattenhaften Gedächtnisses war, so weit entfernt, dass sie eine Figur aus einem Horrorfilm hätte sein können. Die Person in meinem Genesungstagebuch jedoch ist kindlich und prosaisch, anders als dieses schattenhafte Ich vor dem stationären Aufenthalt, das selbst in den dunkelsten Zeiten unheimlich aufschlussreich sein konnte. Und doch gibt es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen diesem Tagebuch und den Tagebüchern, die ich während meiner Schulzeit in der Mittelstufe geführt hatte. In jedem fehlt es erstaunlich an Einsicht und Neugier über mich selbst. Anstelle tiefgründiger Gedanken gibt es Dutzende Passagen, die meinem Körper gewidmet sind (Gewichtszunahme in dem Genesungstagebuch und mangelnder Busen im Schultagebuch) und Ergüsse über alberne, belanglose Probleme des Alltags (die Abscheu gegenüber dem Krankenhausessen, die Abneigung gegen den Kampf mit Freundfeinden). Ich fühle mit dieser verletzlichen, aufkeimenden Susannah genauso mit wie mit der zehn- bis zwölfjährigen Version von mir, aber sie ist noch nicht völlig das Ich, das ich heute bin.
    Den ersten Eintrag im Krankenhaus schrieb ich am 3. Juni 2009, während ich die zweite IVIG-Infusion bekam. Mein Vater, der wie üblich auch bei diesem dritten stationären Aufenthalt jeden Vormittag bei mir war, half mir beim Schreiben und empfahl mir, ich solle doch versuchen, meine verloren gegangene Zeit nachzuvollziehen, indem ich eine Chronologie der Ereignisse aus meinem eigenen Gedächtnis zusammenstellte. Meine Liste begann mit »Taubheit und Schlaflosigkeit« und endete mit »dritter Krampfanfall im Krankenhaus«. Ich hatte nichts weiter zu verzeichnen, nachdem ich am 23. März den Cappuccino im Aufnahmebereich des Krankenhauses gekauft hatte. Beim Erstellen der Liste fügte ich nachträglich die Worte »Nacht in Dads Haus« zwischen »2. Krampfanfall« und »3. Krampfanfall« ein, beinahe wie einen nachträglichen Einfall. Diese Zeile ist am schlechtesten lesbar, und das mit gutem Grund: Ich war noch verunsichert und beschämt über mein Verhalten in dieser giftigen Nacht – was ich übrigens bis heute noch bin –, und das zeigte sich auch in meiner Handschrift.
    Meine Handschrift war noch fremdartig, es bestand jedoch ein gewaltiger Unterschied zu den infantilen Notizen, die ich während meines ersten Krankenhausaufenthalts gemacht hatte. Ich konnte nun in vollständigen Sätzen schreiben und sogar ein Semikolon verwenden. Am aussagekräftigsten an meiner Liste ist jedoch das, was fehlt: Es gibt keine einzige Erinnerung an meine Zeit im Krankenhaus.
    Mein Vater überflog die Seite beunruhigt. Es war die erste Bestätigung meines tiefgreifenden Gedächtnisverlustes. Er verbarg seine Überraschung jedoch und half mir, aus seiner eigenen Erinnerung einige Teile einzufügen, wobei er eine gründlicher ausgearbeitete Version der Ereignisse lieferte. Es gibt jedoch noch immer klare Auslassungen, sowohl bei meinem Vater als auch bei mir. Die Lücken sind geringfügig, aber aussagekräftig, denn ein Gedächtnisverlust kann nicht nur durch eine Hirnverletzung eintreten, sondern auch durch ein emotionales Trauma. Niemand, der mir in dieser Zeit nah war, blieb davon verschont.
    Mein Vater ließ in seiner Chronologie absolut Nachsicht zu meinen Gunsten walten, weil er es hasste, über diese Zeit zu sprechen. Sein neues Motto lautete: »Um vorwärtszugehen, muss man die Vergangenheit hinter sich lassen.« Giselle erzählte mir später jedoch im Vertrauen, wie hart die Situation für ihn gewesen war. Er war ein Wrack gewesen. Wenn andere Familienmitglieder angerufen hatten, um sich zu erkundigen, hatte er den Hörer nicht abgehoben, da er sicher war, seine hart erkämpfte Haltung zu verlieren, wenn er bekannte Stimmen hörte. Mein Bruder erinnert sich, einmal mit unserem Vater telefoniert zu haben, als er noch auf der Universität war und ich in den Fängen dieser rätselhaften Krankheit. Irgendwann bei dem Gespräch war das einzige Geräusch, das James am anderen Ende hören konnte, tiefes Luftschnappen, das die Schluchzer überdecken sollte.
    Dann gibt es noch das persönliche Tagebuch, das mir mein Vater gab, anstatt direkt mit mir über das Geschehene zu sprechen. Er hatte sich entschlossen, es mir für meine Nachforschungen zur Verfügung zu stellen. Anhand dieser Einträge konnte ich meinen Krankenhausaufenthalt aus der Sicht meines Vaters nacherleben. Ich

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