Feuer Und Stein
eingefallenen Gesicht lagen tiefe Schatten, aber auch Frieden: die Falten um den Mund hatten sich geglättet, und die blauen Augen waren klar. »Aber ich bin verdammt nah dran, ob ich will oder nicht. Daß ich jetzt nicht sterbe, liegt nur daran, daß ich Hunger habe. Ich hätte keinen Hunger, wenn ich sterben würde, meinst du nicht? Wäre Verschwendung.« Er sah mich mit einem Funken seines alten Humors an.
»Kannst du nicht aufstehen?«
Er überlegte. »Wenn mein Leben davon abhinge, könnte ich vielleicht den Kopf heben. Aber aufstehen? Nein.«
Mit einem Seufzer wand ich mich unter ihm hervor und richtete das Bett, bevor ich versuchte, ihn in die Senkrechte zu bekommen. Er stand nur ein paar Sekunden, dann verdrehte er die Augen und fiel quer über das Bett. Voller Angst tastete ich nach seinem Puls. Aber er schlug ruhig und kräftig. Schlichte Erschöpfung.
»Das Herz eines Löwen«, sagte ich kopfschüttelnd, »und der Kopf eines Ochsen. Zu schade, daß du nicht auch das dicke Fell eines Nashorns hast.« Ich berührte die blutigen Striemen an seiner Schulter.
Er öffnete die Augen. »Was ist ein Nashorn?«
»Ich dachte, du wärst bewußtlos!«
»Das war ich auch. Ich bin es. In meinem Kopf dreht sich alles wie ein Kreisel.«
Ich zog ihm eine Decke über die Schultern. »Was du jetzt brauchst, ist Essen und Ruhe.«
»Was du jetzt brauchst, sind Kleider.« Das eine Augenlid sank herab, und er schlief augenblicklich ein.
40
Absolution
Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich in mein Bett gefunden hatte, aber irgendwie mußte ich hingekommen sein, denn dort wachte ich auf. Anselm saß lesend am Fenster.
Ich schnellte in die Höhe.
»Jamie?« krächzte ich.
»Er schläft«, antwortete Anselm und legte das Buch zur Seite. Er blickte auf die Stundenkerze auf dem Tisch. »So wie Sie. Sie waren die letzten sechsunddreißig Stunden bei den Engeln, ma belle .« Er füllte einen Becher aus dem Steingutkrug und hielt ihn mir an die Lippen. Vor dem Zähneputzen Wein im Bett zu trinken, hätte ich früher als den Gipfel der Dekadenz betrachtet. Dies in einem Kloster in Gesellschaft eines Franziskanermönchs zu tun, schien weniger verwerflich. Und tatsächlich vertrieb der Wein den moosigen Geschmack in meinem Mund.
Ich schwang die Beine über die Bettkante und wäre fast auf den Boden gefallen, wenn Anselm mich nicht am Arm gehalten und sanft zurück in die Kissen gedrückt hätte. Er schien plötzlich vier Augen zu haben und mehr Nasen und Münder, als unbedingt notwendig war.
»Mir ist ein bißchen schwindlig«, sagte ich und schloß die Augen. Dann probierte ich es mit einem Auge. Immerhin gab es ihn jetzt nur noch einmal, wenn ich ihn auch etwas verschwommen wahrnahm.
Anselm beugte sich besorgt über mich.
»Soll ich Bruder Ambrosius oder Bruder Polydor holen, Madame? Ich kenne mich in der Medizin bedauerlicherweise kaum aus.«
»Nein. Ich brauche nichts. Ich habe mich nur zu schnell aufgesetzt.« Ich versuchte es noch einmal langsamer. Diesmal blieb das
Zimmer mit allem, was sich darin befand, einigermaßen still. Allmählich spürte ich, daß ich voller Blutergüsse und schmerzender Stellen war. Als ich mich zu räuspern versuchte, merkte ich, das auch das schmerzte. Ich verzog das Gesicht.
»Wirklich, ma chère , ich glaube, daß ich vielleicht…« Anselm stand an der Tür und wollte gehen, um Hilfe zu holen. Er sah ziemlich erschreckt aus. Ich griff nach dem Spiegel, besann mich dann aber eines Besseren - dafür war ich wirklich noch nicht bereit. Statt dessen griff ich nach dem Weinkrug.
Anselm kam langsam zurück und musterte mich. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß ich nicht zusammenbrechen würde, setzte er sich wieder hin. Ich trank den Wein in kleinen Schlucke und merkte, wie die Nachwirkungen des Opiumqualms allmählich nachließen. Wir waren also am Leben geblieben, alle beide.
Meine Träume waren chaotisch gewesen, voll Blut und Gewalt. Immer wieder hatte ich geträumt, daß Jamie tot war oder starb. Und irgendwo im Nebel war das Bild des Jungen im Schnee: Sein überraschtes rundes Gesicht überlagerte Jamies zerschundenes Gesicht. Manchmal schien der rührende, flaumige Schnurrbart auf Franks Gesicht aufzutauchen. Ich erinnerte mich deutlich, daß ich alle drei getötet hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich die ganze Nacht damit verbracht, Menschen zu erstechen und zu erschlagen; jeder Muskel schmerzte, und ich war zutiefst deprimiert.
Anselm war immer noch da und beobachtete
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