Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
Ach nein, er hat sich wirklich aus seiner Ecke heraus gewagt. Wahnsinn! Genau rechtzeitig zur Vorstellung. Mittlerweile sitzt der ewige Rekrut des DS auf der Toilette, sein Unterarm ist freigelegt. Allerdings zögert er für einen Moment. Innen ist schlecht, da befinden sich die Pulsadern, er will sich nicht umbringen, ihm verlangt es nur nach ein wenig Ablenkung – also andere Seite ...
Norton, du durchgeknallter Sack! HÖR AUF! SOFORT!
›Vergiss es, mein Freund. Aber hey, du müsstest doch glücklich sein. Eines zumindest wäre mit dieser Aktion wohl bewiesen: Ohne dich bin ich tatsächlich nur ein Scheißschwächling. Und jetzt pass auf und lerne ...‹
Damit setzt er die Rasierklinge exakt neben der alten verblassten Narbe an, die er sich als kleiner Junge zugefügt hat. Ehe Andrew ernst macht, schließt er jedoch die Augen und dann erst drückt er zu.
Schmerz ...
Langsam verstärkte er den Druck.
Mehr Schmerz ...
Die dünnen Hautschichten kapitulieren vor der scharfen Klinge – eine nach der anderen. Die Qualen werden erlesen, kurz bevor die letzte zarte Membran nicht länger standhält und nachgibt. Daraufhin spürt er das warme Blut träge an seinen Arm hinablaufen und legt den Kopf in den Nacken – ausschließlich konzentriert auf das erholsame Brennen, das dafür sorgt, dass er wieder atmen kann. Es lässt ihn alles vergessen: die Bilder von seiner Mom, Josies grausame Worte, die Tatsache, dass sie ihn hasst und nicht mit ihm zusammen sein will. Selbst, dass sie gestern beinahe gestorben wäre, verblasst hinter diesem wunderbaren Schmerz.
Ahhhh ...
Platsch ... platsch … platsch ...
Andrew hört das Geräusch, braucht jedoch eine Weile, um zu begreifen, dass da sein Blut auf die Fliesen tropft. Dann schlägt er die Augen auf und blickt hinab.
Oh, was für eine verdammte Sauerei!
Eilig entfernt er die Klinge aus der Wunde und registriert nebenbei, dass seine Fäuste sich geöffnet haben und die Kiefernstarre endlich nachlässt. Er muss zusehen, dass er die Spuren beseitigt, denn das ist oberstes Gesetz. Keineswegs ist es am gefährlichsten, die Kontrolle zu verlieren, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Solange es vor den Leuten verborgen bleibt, kann man sich so irrsinnig benehmen, wie man will. Erst, wenn es nicht mehr gelingt, das zu verbergen, wird die Situation ernsthaft brisant ...
Andrew lässt sich nie erwischen. Bisher konnte er seine Schlaflosigkeit vor jedem einzelnen Menschen verheimlichen (außer einem); und sein flüchtiger Ausflug ins Reich des Schmerzes wird denselben Weg nehmen (einschließlich der einen). Niemand wird es je herausfinden und damit ist er gerettet.
Hastig nimmt er einen Wundverband aus jenem Schrank, der gleichfalls seine geheime Rückversicherung beherbergt und desinfiziert bedächtig die Verletzung. Scharf zieht er die Luft ein, als das Zeug in dem offenen Schnitt brennt, und wickelt schließlich den Verband darum.
Danach begutachtet er sein Werk. Nicht perfekt, jedoch ausreichend. Es wird weder mit dem Morgenmantel noch dem Hemd auffallen. Als Nächstes greift er zu einer neue Rolle Toilettenpapier und beginnt das Blut vom Boden zu wischen. Dabei achtet er sehr genau darauf, keine Beweise zu hinterlassen. Nicht die Geringsten. Und nachdem auch das geschafft ist, schaut er sich prüfend um.
Der Rasierer!
Sorgfältig spült er die Klinge unter fließendem Wasser ab, legt sie wieder in die Halterung des Rasierapparates und schraubt ihn zu. Schubfach zu – erledigt. Dann löscht er das Licht und tritt in sein Schlafzimmer.
Was nun?
Es ist kurz nach vier Uhr – er muss ziemlich lange in dem Bad zugebracht haben. Aber was soll Andrew jetzt tun? Zorn und Schmerz hat er erfolgreich zurückgedrängt, das Monster in ihm ist gebändigt. Für den Moment. Doch fühlt er sich stark genug, Josie gegenüberzutreten? Bisher nicht. Zorn und Schmerz kann er aus seinem Gedächtnis verbannen, ihren Verrat nicht. Dafür bedarf es noch einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der derzeitigen Gesamtlage. Und das gelingt ihm am besten, wenn er allein ist.
Was er demnach braucht, ist Zeit .
Mit einem Schulterzucken legt er sich auf sein Bett. An Schlaf ist natürlich nicht zu denken, in Wahrheit will er ihn auch gerade gar nicht. Er wird hier einfach warten, bis die Wunde nicht mehr so gemein wütet und er sich allgemein gefangen hat. Sie soll nicht erkennen, wie tief sie ihn getroffen hat. Dann würde sie seine Schwäche nämlich ausnutzen und es immer wieder
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