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Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)

Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)

Titel: Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kera Jung
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er den Hörer fallen lässt und nach oben hechtet.
    Und das Erste, das wirklich Allererste, was er tut, nachdem er den Raum betreten hat, ist: Er dankt dem Schicksal, dafür, dass es nicht Claudia war, die Andrew das Essen brachte. Er ist unendlich dankbar, dass sie sich im Moment nicht einmal im Haus befindet.
    Danke, dass sie einkaufen ist.
    Das Bett ist rot. Frank ist rot. Andrew ist rot. Die Wand hinter dem Bett ist rot. Das Zimmer gleicht einem gottverdammten Schlachthaus! Überall sind Blutspritzer verteilt. Frank hält die dürren Handgelenke und funkelt ihn an. »Verbandszeug! Irgendwas!«
    Irgendwas ... Irgendwas! Was weiß Sebastian denn, wo der Scheiß hier aufbewahrt wird? Aber dann richtet er seinen Blick auf den schmutzigen Verband, der inzwischen am Boden liegt. Gut, dort, wo du herkommst, verbergen sich bestimmt noch ein paar Kumpels von dir.
    Die nächste Eingebung folgt: So etwas lagert man doch immer im Bad! Kaum gedacht stürzt er dorthin und beginnt wahllos, den Inhalt aus den Schränken zu reißen. Und er hat Glück ...
    Sie verarzten Andrews Unterarme. Oh, hier handelt es sich garantiert nicht um einen Hilferuf, der Knabe war sehr umsichtig. Beide Arme sind bis zum Ellenbogen sauber aufgeschlitzt. Und jetzt erfährt Sebastian auch endlich den Grund für den anderen Verband.
    Mit weit aufgerissenen Augen starrt er zu Frank, der ebenfalls die ältere Verletzung fixiert. »Ich hatte keine Ahnung von dem Scheiß!«, knurrt er, als wolle er sich verteidigen.
    Sebastian schüttelt den Kopf. »Woher auch? Dich trifft nicht die geringste Schuld.«
    Scheiße, er hat nicht geahnt, dass Andrew so im Arsch ist!
    Doch ihm bleibt keine Gelegenheit, über dessen Selbstverstümmelungsaktivitäten  nachzugrübeln, denn zum ersten Mal droht Frank, ernsthaft die Beherrschung zu verlieren.
    »So ein Idiot«, grollt er vor sich hin und wischt sich mit den blutverschmierten Fingern über die Stirn. »So ein verdammter Idiot!«
    Sebastian schaut zu ihm auf, erkennt die Blässe unter all dem Rot. Zeit, den Helden zu spielen, Bastie!
    Und Bastie ringt erfolgreich mit seiner Fassung. »Geh, hol Wasser, wir müssen das hier verschwinden lassen, bevor Claudia kommt.«
    Sein Knurren wird noch bedrohlicher. »Nein. Ich bleib bei dem Irren!«
    »Geh, Frank!« Auch Sebastian grollt jetzt. »Wenn sie das sieht, haben wir den nächsten Selbstmordkandidaten. Bitte!«
    Unentschlossen mustert der ältere Mann den jüngeren, blickt abwägend zu Andrew nickt schließlich und verschwindet. Sebastian wickelt weiter und beißt die Zähne zusammen.
    Er wickelt im Wettlauf mit seiner Selbstbeherrschung, seiner Angst, seiner Verzweiflung ... Diesmal gewinnt er.
    Und Andrew?
    Der liegt mit offenen Lidern da, selbst über und über mit Blut bespritzt und rührt sich nicht. Doch als Frank mit einem Eimer Wasser wiederkehrt und Sebastian den kargen Körper aus dem Bett hebt, damit sie es abziehen können, hört er ihn murmeln:
    »Scheiße!«
    Schon mal versucht, jemanden davon abzuhalten, sich umzubringen?
    Hiermit ist eine Person gemeint, die ernsthaft entschieden hat, nicht mehr zu leben. Keine halbseidenen Versuche, um seine Mitmenschen wach zu rütteln. Die Art, bei der man immer eine ausreichend Zeit hat, einzugreifen, weil derjenige nicht wirklich abkratzen will, sondern nur um Hilfe ruft. Nein, nein, die Rede ist von einem Menschen, der absolut und wild entschlossen ist, zu sterben.
    Egal wie.
    Im Grunde ist es ganz einfach: Man lernt es. Versuch für Versuch. Es ist ein ewiger Wettlauf mit der Uhr, der Fantasie des Lebensmüden, der eigenen Schwäche, der eigenen Angst und dem der eigenen Entsetzen.
    Hätte Sebastian am Mittwoch gewusst, was ihm am Freitag, nach zwei Tagen Hölle bekannt ist, wäre Andrew kein weiterer Anlauf gelungen. Aber Sebastian kann nicht in die Zukunft schauen, Claudia und Frank leider auch nicht.
    Am Mittwochmittag haben sie gelernt, dass man alles Spitze und Scharfe entfernen muss – sie leeren die Badschränke. Am Mittwochabend ist ihnen darüber hinaus geläufig, dass Gürtel in der Nähe eines Menschen, der seinem Dasein ein Ende setzen möchte, gleichfalls nicht sehr empfehlenswert sind. Wären sie bereits mittags so weit gewesen, wäre Andrew zumindest vor den blauen Striemen um seinen Hals bewahrt worden – und sie vor seinem Röcheln, als sie den Raum betraten.
    Seitdem Frank ihn fand, gehen sie nur noch zu zweit zu ihm. Einer allein ist nicht in der Lage, das zu verkraften.
    Donnerstagmorgen

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