Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
realisiert Sebastian, dass es ebenfalls nicht ratsam ist, einem Selbstmordkandidaten den Zugang zum Wasser zu erlauben. Mittlerweile ist nicht nur das Badezimmer komplett geräumt, sondern auch der Ankleideraum. Auf die Idee kamen sie sogar ohne Andrews vorherige praktische Beweisführung. Was mit Gürteln klappt, funktioniert nämlich darüber hinaus hervorragend mit Hosen, Hemden, Krawatten – oh, mit denen ganz besonders. Das Wasser stellte Sebastian dann am Donnerstagmittag ab, nachdem sie Andrew aus der Badewanne fischen und schätzungsweise einen Liter Flüssigkeit aus dessen Lunge pressen durften.
Das Bett ist abgezogen – Laken und Bettbezüge sind gleichfalls willige Helfer. Sein Essen – das er nach wie vor nicht anrührt – bekommt er inzwischen ausschließlich auf Einweggeschirr.
Und Andrew? Der scheint sich köstlich zu amüsieren. Wann immer sie ihn retten, spielt ein versonnenes, leises Lächeln um seine mit einem Mal kaum noch vorhandenen Lippen.
Touché, mein Freund! Mal sehen, ob du beim nächsten Mal wieder so schnell bist. Ich habe Zeit, und im Gegensatz zu dir nichts mehr zu verlieren. Ist schon alles weg, bis auf eines. Und daran arbeite ich gerade auf Hochtouren.
Sie haben wirklich an alles gedacht. Inzwischen ist Sebastian Experte, was die verschiedensten Möglichkeiten angeht, seinem Leben ein Ende zu bereiten.
Niemand hat allerdings eine Vorstellung, wie kreativ ein verzweifelter Mensch werden kann.
Bisher fanden ihn immer die beiden Männer, bevor Andrew erfolgreich abkratzen konnte. Das Verhältnis ist demnach denkbar unausgewogen, und eigentlich müsste ihnen das zu denken geben. Doch für derartige komplizierte Überlegungen sind sie mittlerweile zu ausgelaugt.
Am Donnerstagabend nimmt Claudia das Tablett. »Bleibt sitzen«, sagt sie, als die beiden aufstehen wollen. Seit Mittag ist nichts mehr geschehen. Wie auch? Sie haben ja das Zimmer vollständig ausgeräumt. Daher denkt Sebastian sich nichts dabei, als sie allein, mit dem Essen bewaffnet die Treppen hinaufsteigt.
Dämlich!
»ANDREW NEEEEEEIIIIINNNN!«
Sie hören das Tablett zu Boden gehen und Frank und Sebastian starren sich für eine Sekunde an, bevor sie losstürzen.
Ja, sie haben wirklich alles Scharfe entfernt – dachten sie ... was der nächste beschissene Fehler war.
Andrew kniet grinsend und schwankend in der Mitte des kahlen Raumes und hält sich soeben eine riesige Scherbe an die Kehle. Eindeutig ein Fragment aus dem, was früher mal ein recht hochwertiger Kristallbadspiegel war. Er hat ziemlich weit links angesetzt und das rettet ihm das Leben und Sebastian den Verstand. Der Schnitt, den er bisher zustande gebracht hat, ist ungefähr fünf Zentimeter lang. Aber noch nicht tödlich ...
Sebastian handelt rein instinktiv, ebenso wie Frank. Es ist der Mut der Verzweiflung und der Erschöpfung. Sie stürzen sich auf Andrew, der Riese reißt dessen Arm herunter, Frank windet ihm die Scherbe aus der Hand und dann werfen sie ihn auf das Bett. Hastig sieht Sebastian zu seinem Mädchen, das in die Knie gegangen ist – mitten hinein in die Reste, die noch vor einer Minute Andrews Dinner darstellten. Na ja, er hätte es sowieso nicht gegessen. Ihr Mund steht offen, die Augen sind riesengroß und sie gibt keinen Ton von sich.
Claudia ist fertig.
Sebastian auch! Aber er kann sich leider nicht zu ihr hocken, weil er erst mal den irren Selbstmörder verbinden muss. Das tut er, während Frank ihn hält und Andrew lächelt.
Ab diesem Moment jedoch hat Sebastian seine Lektion gelernt. Es ist ganz einfach:
Man kann einen Suizidanwärter nur davon abhalten, zum Ziel zu gelangen, indem man ihn nicht eine einzige Minute aus den Augen lässt. Nicht die winzigste Sekunde. Denn er wird immer einen Weg finden.
Egal wie.
Die Nacht verbringen sie in der kahlen Abgeschiedenheit bei Andrew. Vorher hat Sebastian Claudia ins Bett gebracht. Wortwörtlich. Sie ist zu keiner eigenmotivierten Bewegung mehr imstande. Dann sitzt er links neben dem Bett, sein Handgelenk ist mit einer Schnur an Andrews rechtem befestigt. Frank sitzt auf der anderen Seite, dessen Hand ist mit Andrews linker verbunden.
Nur, falls sie einschlafen.
Niemand schläft.
Weder Frank.
Noch Andrew.
Und Sebastian auch nicht.
Dennoch wird kein Wort gewechselt. Alles, was zu hören ist, sind ihre Atemzüge.
Und es wird eine ziemlich lange, ereignislose Nacht.
Am nächsten Morgen – einem Freitag – hat Claudia sich ein wenig erholt und kommt gegen acht Uhr
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