Feuerflügel: Roman (German Edition)
schrecklichen zuckenden Schmerz durch seinen ganzen Körper. Ohne nachzudenken, breitete er ruckartig die Flügel aus und fletschte zischend die Zähne. Sie taumelte ein paar Flügelspannen zurück und starrte ihn keuchend an. Sie wirkte, als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht.
„Oh ...“, hauchte sie. „Oh, Greif ... es tut mir Leid.“ Ihr Gesicht zerfiel.
„Ist schon in Ordnung.“
„Nein.“ Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Das war abscheulich. Ich kann gar nicht glauben, dass ich ... gerade so wie diese Fledermäuse in der Oase.“
„Nein. Du bist nur in Panik geraten, das ist alles“, sagte Greif. „Jedem anderen wäre es genauso ergangen.“ „Habe ich dir wehgetan?“
„Du hast mir Angst gemacht.“
Eine Zeit lang sprachen sie nicht, schöpften Atem.
„Aber ich bin irgendwie froh, dass du das getan hast“, gab Greif zu. „Danke.“
„Warum?“
„Weil du mir gezeigt hast, dass ich doch leben will“, sagte er. „Ich will nicht hier sterben.“
Dante brachte sie zum höchsten Steinturm des Tals. Seine Spitze ragte über die leuchtenden zerknautschten Hügel hinaus.
Jeder Flügelschlag tat weh, und Greif brauchte zwei Anläufe, um sich von dem Sims am oberen Ende des Turms herabhängen zu lassen.
Sie konnten den BAUM selbst nicht sehen, sondern nur ein Leuchten, das wütend am Horizont pulsierte. Gelegentlich bildete ein Streifen heftiger Flammen, breit wie ein Regenbogen, eine Wölbung am Himmel. Greif zuckte zurück und sah Luna an, aber ihr Gesicht war versteinert, undurchdringlich.
„Das ist euer BAUM“, sagte Dante. „Nicht weit, vielleicht zehntausend Flügelschläge.“
„Danke“, sagte Greif. Er fragte sich, ob er das schaffen würde.
„Viel Glück“, sagte Dante. „Ich hoffe, es ist all das, was ihr euch wünscht.“
Goth erwachte halb im Schlamm vergraben. Die Augen öffnen war alles, was er tun konnte. Die Wucht des Wasserfalls und sein Aufprall auf den Boden hatten jeden toten Knochen seines Körpers zerbrochen. Er fühlte nichts mehr.
Zum dritten Mal war es ihm nicht gelungen, das Jungtier zu töten, und er konnte es kaum fassen.
Er brüllte seine Verzweiflung durch die zerschmetterten Kiefer und gesplitterten Zähne hinaus. Wieder hatte er versagt und er würde keine weitere Chance bekommen. Alles, was ihn jetzt noch erwartete, war eine Ewigkeit des Leidens im wirbelnden Säurebad im Inneren von Cama Zotz. Wenn er sich doch nur aus diesem Schlamm befreien und sein Schicksal mit Würde annehmen könnte.
Wind erhob sich um ihn herum.
„Goth ...“
Er schloss die Augen und wartete ab.
„Hältst du mich wirklich für so unbarmherzig?“, fragte Zotz. „Ich bin nicht ohne Mitleid. Du hast im Dienste deines Gottes gelitten, und das ist etwas, was ich nicht zu bestrafen gedenke.“
Goth hörte ein schnappendes Geräusch, und plötzlich konnte er wieder sein Rückgrat spüren. Gefühle flossen an ihm entlang wie ein über die Ufer tretender Fluss, strömten durch den restlichen auftauenden Körper. Seine zerschmetterten Glieder schrien vor Schmerz, aber er spürte, wie ein Knochen nach dem anderen an seinen Platz sprang, die langen Finger seiner Flügel, die Hüften, die Rippen, die Kiefer verbanden sich und heilten.
Er befreite sich aus dem Schlamm und dehnte die Flügel.
„Komm“, sagte Cama Zotz, „es gibt noch Arbeit zu verrichten.“
Und Goth fühlte, wie er von einer mächtigen Luftströmung emporgehoben und mühelos durch den Himmel der Unterwelt getragen wurde.
–20–
Der Glockenturm
Aus der Stirnseite der Klippe gehauen, sah die Kathedrale unwirklich aus, wie eine Luftspiegelung, entworfen von Schattens fiebrigem Gehirn. Er versuchte, sie durch Blinzeln auszulöschen, aber sie blieb bestehen. Zwei massige Türme flankierten den Eingang und weiter hinten auf dem hohen gewölbten Dach erhob sich ein Mittelturm in die Luft, bekrönt von einem Kreuz. Es war ein so vertrauter Anblick, dass er vor Freude heiser auflachte. In der nördlichen Stadt der Menschen, nicht weit vom Baumhort entfernt, stand eine Kathedrale, die dieser fast glich, in deren Glockenturm er als verirrtes Jungtier Zuflucht gefunden hatte.
Er war nun stundenlang und ohne Pause angestrengt über eine merkwürdig zerknautschte Landschaft leuchtender Hügel und flacher Täler geflogen. Vorher, noch in der Nähe der Ufer des dunklen Flusses bei den beiden Steinhörnern hatte er das Echo-Bild seines Sohnes aufgefangen – und seine flehende Stimme, die nach ihm
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