Feuerflügel: Roman (German Edition)
um den Blick davon loszureißen, und nun war er auf eine einzige Sache ausgerichtet:
das Silberflügel-Jungtier, das leuchtende.
Goth war schon nahe herangekommen, so nahe, dass ihm bereits das Wasser im Munde zusammenlief, abgesehen davon, dass er gar keinen Speichel hatte. Aber das Gefühl war das gleiche, dieses fast schmerzhafte Kribbeln in den Kiefergelenken und das unfreiwillige Zähneknirschen.
Das also war der Sohn von Schatten Silberflügel. Nicht so ein Knirps wie sein Vater, aber mit lächerlichen Streifen glänzenden Fells auf Schultern und Rücken. Goth näherte sich ihm weiter von hinten. Der Junge würde nicht einmal wissen, was ihn erwischt hatte. Innerhalb von Sekunden würde Goth seinen Hals zwischen den Zähnen haben, zubeißen, und das ganze strahlende Leben würde herausfließen und ... Von Zotz eingeatmet werden.
Nicht von ihm selbst, sondern von Zotz.
Goth zögerte. Er wusste nicht, ob er das ertragen könnte. Das Junge zu töten, zu sehen, wie sein Leben aufgesaugt und verschwendet wurde, wenn es stattdessen ihm selber Leben hätte geben können. Das war gierig von seinem Gott, grausam, ihm dies anzutun. Aber er konnte nichts dagegen tun. Er musste Zotz gehorchen. Es sei denn ...
Was wäre, wenn er selber das Leben des Jungen ergriff? Es schnell ergriff und wieder lebendig wurde? Zotz konnte das nicht verhindern. Zotz hatte keine Macht über die Lebenden. Er wäre nicht in der Lage, Goth zu bestrafen. Goth spürte, wie er bei dieser Vorstellung zitterte. Seinem Gott nicht zu gehorchen war etwas Furchtbares. Selbst wenn es zum Nutzen des Gottes geschah.
Zuerst würde Cama Zotz wütend sein, aber wenn Goth erst in die Oberwelt zurückkehrte und neue Gefolgsleute zu sammeln begann, um für die Befreiung ihres Gottes aus der Unterwelt zu arbeiten, sicher würde ihm Zotz dann vergeben und erkennen, dass Goths Handlungen ehrenhaft und richtig gewesen waren.
Es verlangte ihn nach Leben. Wie konnte er abwarten, wenn es direkt vor ihm lag?
Nur Flügelschläge entfernt?
„Greif! Greif Silberflügel!“
Seine Ohren zuckten höher beim Klang seines Namens – und da war auch etwas merkwürdig Vertrautes in der Stimme selbst, obgleich er sicher war, sie noch nie gehört zu haben. Wer sonst noch kannte seinen Namen hier unten? Luna, die schweigend neben ihm hing, und Frieda. Aber mit Sicherheit war es nicht deren Stimme.
„Greif!“
Der Ruf klang so dringend, so flehend, dass er beinahe geantwortet hätte, aber er zögerte, weil er an die Vampyrum dachte.
„Es ist dein Vater! Greif! Wo bist du?“
Greif bekam eine Gänsehaut, als diese Worte schwach durch die Höhle hallten. Sein Vater? Das konnte nicht stimmen. Sein Vater war im Felsenlager bei den anderen Männchen; er würde noch nicht einmal über das Erdbeben beim Baumhort Bescheid wissen.
„Luna?“, flüsterte Greif. „Hörst du das?“ Aber sie antwortete nicht. Sie starrte noch immer selbstvergessen nach unten.
Greif blickte sich um, sah aber nichts. Er musste jetzt wohl selber auch schon Dinge hören, die es nicht gab. Dann tauchte aus den dunstigen Lichtflächen ein Silberflügel auf und schwebte quer durch die Höhle. Er war noch ziemlich weit entfernt, flog auf die Decke zu, um all die dort ruhenden Fledermäuse zu betrachten. Immer wieder rief er Greifs Namen.
Auf der Suche nach mir.
Greif fiel wieder ein zu atmen. Es war nur ein Trugbild. Er sah nur, was er sich wünschte, wie Luna auch. Er sah zu, wie das Silberflügel-Männchen näher kam, immer näher, und dann abschwenkte, um in einer anderen Richtung zu suchen. Sich von ihm entfernte. Greif zog sich das Herz zusammen. Er konnte sich nicht zurückhalten. Er ließ sich fallen und flog vorsichtig hinterher, immer noch ohne zu rufen. Nur um zu schauen.
Eine Minute später kippte der Silberflügel plötzlich seitwärts und sah ihn. Er starrte Greif an und ließ einen Flügelschlag aus, dann schoss er mit solcher Geschwindigkeit auf ihn zu, dass Greif scharf bremste und in einem vorsichtigen Bogen auswich.
„Greif, was ist los?“
Greif hielt auf Abstand. „Bist du wirklich?“
„Ich bin dein Vater!“
Greif blickte zu all den verzauberten Fledermäusen, die von der Decke herabhingen. „Alle sehen hier irgendwelche Sachen. Vielleicht sehe auch ich welche.
Und woher sollte ich überhaupt wissen, wie du aussiehst? Ich habe dich noch nie getroffen.“
„Nun ... das stimmt.“ Er wirkte nervös. „Aber deine Mutter muss dir von mir erzählt haben!“
Greif
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