Feuerklingen (First Law - Band 2)
gekommen. Eine ganze Division war abgeschlachtet worden. Wie viele Kinder waren nun ohne Väter? Wie viele Frauen ohne Ehemänner? Wie viele Eltern ohne Söhne? Wenn er doch nur mehr hätte tun können, sagte er sich zum tausendsten Mal und ballte die blutleeren Hände zu Fäusten. Wenn er doch nur den Prinzen hätte überzeugen können, den Fluss nicht zu überschreiten, dann wären diese Männer jetzt vielleicht nicht tot. So viele Tote. Er wusste kaum, ob er sie bemitleiden oder beneiden sollte.
»Immer einen Schritt nach dem anderen«, raunte er vor sich hin, als er sich weiter den Abhang hinaufkämpfte. Nur so konnte man es angehen. Wenn man die Zähne fest genug zusammenbiss und genug Schritte machte, konnte man überall hingelangen. Ein schmerzvoller, müder, eiskalter, schuldiger Schritt nach dem anderen. Was sonst konnte man tun?
Sie hatten es kaum bis zur Spitze des Hügels geschafft, als sich Prinz Ladisla gegen die Wurzeln eines Baumes sinken ließ, wie er das mindestens einmal in der Stunde tat. »Oberst West, bitte!« Er schnappte nach Luft, und der Atem dampfte um sein verquollenes Gesicht. Zwei schimmernde Rotzspuren wie bei einem Kleinkind zierten seine blasse Oberlippe. »Ich kann nicht mehr weiter! Sagen Sie ihnen … befehlen Sie ihnen anzuhalten, um Himmels willen!«
West fluchte unterdrückt. Die Nordmänner waren schon gereizt genug und gaben sich immer weniger Mühe, das zu verbergen, aber ob es ihm gefiel oder nicht, Ladisla war immer noch sein Oberbefehlshaber. Und noch dazu der Thronerbe. West konnte ihm schlecht sagen, dass er aufstehen sollte. »Dreibaum!«, keuchte er.
Der alte Krieger sah ihn über die Schulter hinweg schlecht gelaunt an. »Du willst mich hoffentlich nicht schon wieder um eine Pause bitten, mein Junge.«
»Es geht nicht anders.«
»Bei den Toten! Schon wieder? Ihr Südländer habt wirklich überhaupt kein Mark in den Knochen! Kein Wunder, dass Bethod euch derartig durch die Mangel gedreht hat. Wenn ihr Schlappschwänze nicht zu marschieren lernt, dann macht er das auch noch ein zweites Mal, das kann ich euch flüstern!«
»Bitte. Nur einen kleinen Augenblick.«
Dreibaum sah auf den ausgestreckt daliegenden Prinzen und schüttelte angeekelt den Kopf. »Na schön. Ihr könnt euch einen Augenblick hinsetzen, wenn Ihr euch anschließend schneller bewegt, aber fangt nicht an, Euch daran zu gewöhnen, verstanden? Wir haben noch nicht mal die Hälfte der nötigen Strecke zurückgelegt, um Bethod vorauszueilen.« Damit ging er davon und rief nach dem Hundsmann.
West ließ sich auf die Knie sinken, massierte die tauben Zehen und blies in die hohlen Hände. Am liebsten hätte er sich ebenfalls lang hingelegt wie Ladisla, aber er wusste aus harter Erfahrung, dass das Weiterlaufen danach nur noch schwerer sein würde. Pike und seine Tochter standen in der Nähe und schienen beide nicht einmal außer Atem. Es war der deutliche Beweis – falls man den noch gebraucht hätte –, dass die Schmiedearbeit in einer Strafkolonie eine bessere Vorbereitung auf einen harten Querfeldeinmarsch war als ein Leben voller Annehmlichkeiten.
Ladisla schien seine Gedanken zu erraten. »Sie können sich nicht vorstellen, wie hart das für mich ist!«, platzte er heraus.
»Nein, natürlich nicht!«, herrschte West ihn an, dessen Geduld nun ebenfalls am Ende war. »Sie müssen sich ja noch mit dem zusätzlichen Gewicht meines Mantels abschleppen!«
Der Prinz blinzelte, sah dann auf den feuchten Boden, und seine Kiefermuskeln arbeiteten stumm. »Sie haben recht. Es tut mir leid. Mir ist natürlich bewusst, dass ich Ihnen mein Leben verdanke. Ich bin an so etwas nicht gewöhnt, verstehen Sie. Überhaupt nicht gewöhnt.« Er zupfte an den ausgefransten und verdreckten Schulterklappen des Mantels und stieß ein bedauerndes leises Lachen aus. »Meine Mutter hat mir beigebracht, dass ein Mann unter allen Umständen präsentabel aussehen sollte. Ich frage mich, was sie wohl dazu sagen würde.« West bemerkte allerdings sehr wohl, dass er ihm nicht anbot, den Mantel zurückzugeben.
Ladisla hob die Schultern. »Ich nehme an, ich muss einen Teil der Schuld für diese ganze Situation auf mich nehmen.« Einen Teil? West hätte ihn am liebsten einen Teil seines Stiefels zu spüren gegeben. »Ich hätte auf Sie hören sollen, Oberst West. Ich wusste es schon die ganze Zeit. Vorsicht ist im Krieg die beste Tugend, nicht wahr? Das war immer schon mein Motto. Dass mich Smund, dieser Narr, zu einer solch
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