Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
ist. Die seh ich ja gar nicht. Ich kann ja überhaupt keine Erdbeere
sehn. Nicht mal eine, die angebrochen, die noch schmoren tut. Und ich weiß
nicht, was der für Geld kriegt. Ich hab ja nichts mitgenommen. Ich hab das hier
am Dings gebummelt. Und dann mach ich den fertig, damit das wieder ordentlich
ist. Ich wollt meinen Rock doch nicht weggeben. Der war nämlich noch schön.
Guck mal hier, wie schön der im Fell noch ist. Eigentlich viel zu schade für
hier.«
Ihre Worte brabbeln in seinem Kopf, wie seine nicht enden wollenden
Gedanken bei der Meditation. Er sieht sie vor sich, wie sie dasitzt und
unentwegt mit der Hand über den Stoff ihres Rocks streift. Das war damals
gewesen, als er das letzte Mal mit ihr in der Küche ihres Hauses gesessen
hatte. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, dass ihr durch die Demenz
das Tor zum Hier und Jetzt geöffnet wurde. Lange davor, als sie ihre
Vergesslichkeit noch selber bemerken konnte, war ihr Leidensdruck für ihn oft
unerträglich gewesen. Sie lebte zwischen Angst und Panik. Manchmal war sein
gesamter Anrufbeantworter abends nach dem Dienst mit ihrer flehenden Stimme
vollgesprochen gewesen. Zwischen acht und zwölf Anrufe täglich. Er hatte einen
Pflegedienst organisiert, sich gleichzeitig um einen Heimplatz bemüht. Kurze
Zeit später war ihre Erkrankung in eine neue Phase getreten. Sie hatte selbst
ihr Vergessen schon vergessen. Swensen hatte den Eindruck gewonnen, dass sie ab
da innerlich völlig angstfrei lebte. Auch an jenem letzten Abend in der Küche
schien sie mit sich und der Welt im Reinen. Kurz bevor er damals gegangen war,
hatte sie ihn angeguckt, als wenn sie ihn bis dahin noch nie richtig gesehen
hätte und ihn mit auffallend ernster Stimme gefragt: »Und was willst du denn
später mal werden?«
Er
hatte sich fast ein Lachen nicht verkneifen können. In diesem Augenblick war
sie ihm so nahe gewesen, wie in seinem ganzen Leben nicht. War das Mitgefühl
gewesen, hatte er sich gefragt. Mitgefühl, von dem sein Meister gesagt hatte,
dass es kein Unwissen mehr kennt, nur allumfassendes Einssein?
Der Kommissar hat in der Zwischenzeit die Schlossstraße erreicht und
biegt rechts in die Neustadt. Nach hundert Metern steht er vor dem nächsten
Döner-Laden. Die Ziegelfassade mit den beiden Ladenscheiben ist weiß
gestrichen. Er zögert kurz, steigt die vier Stufen in den Eingangserker hinauf
und öffnet die Tür.
5
Es dämmert bereits, als Swensen sein Lieblingsrestaurant betritt. Er ist
mal wieder zehn Minuten zu spät dran. Bruno fängt ihn gleich hinter der Tür ab
und begrüßt ihn mit festem Handschlag. Das gewohnt strahlende Gesicht des
Italieners macht einen leicht mürrischen Eindruck. Der Kommissar sieht ihn
fragend an.
» Ignoranti ,
alles ignoranti «, poltert der wie auf Befehl los. »Das Dante ist
nicht béttola (Kaschemme).«
»Was
ist passiert, mein Freund?«, fragt Swensen interessiert.
»Gestern
kommen zwei Männer und wollen Küche sehen. Sagen Kontrolle, staatlich. Gucken
überall rein. Alles umdrehen.«
»Und?«
»Alles
in Ordnung!«
»Dann
ist doch gut!«
»Was
glauben dein Staat von mir? Ich nichts bin buono a nulla (Nichtsnutz)!«
»Das
ist ganz normal, Bruno. Lebensmittelkontrolle ist Routine in Deutschland! Das
ist nichts gegen dich persönlich!«
Mit
einigen leisen ignoranti -Flüchen begleitet Bruno den Kommissar an Annas
Tisch und drückt beiden die Speisekarten in die Hand.
Zwanzig
Minuten später, während er das liebevoll auf den Tellern ausgerichtete Essen
serviert, strahlt der Italiener schon wieder in alter Frische. Anna und Swensen
verstummen gleichzeitig. Sich während des Essens nicht zu unterhalten ist
mittlerweile Tradition. Anna hatte es erst als Marotte abgetan, es im Laufe der
Zeit aber selbst schätzen gelernt. Schweigen schärft den Gaumen ist zu
ihrer Devise geworden. Beide haben Spaghetti al dente mit bunten Zucchini
bestellt. Die gewürfelten, grünen und goldgelben Zucchini duften nach Basilikum
und Knoblauch. Liebevoll betrachtet Anna Swensens Mund, seine sanft
geschwungenen Lippen, die fast andächtigen Augen, als er die kross gebratenen
Pinienkerne genussvoll zerkaut. Mittlerweile hat sich das Dante bis auf
den letzten Platz gefüllt und Gespräche vibrieren durch den Raum, als würden
tibetische Mönche in einem fort das Om Mani Padme Hum rezitieren.
Swensen legt sein Besteck auf den Teller und langt nach seinem Glas
Mineralwasser. Anna nimmt einen Schluck Rotwein. Das Mahl ist
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