Feuernacht
das Buch auf den Glastisch. Sie las sowieso nicht, hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und verlor immer den Faden, wenn ihre Mutter ohne Rücksicht auf sie telefonierend durchs Wohnzimmer ging. Anstatt sich mit der kleinen Schrift abzuplagen, beobachtete Lena ihre Mutter, die mit theatralischen Gesten durch den Raum lief. Wahrscheinlich redete ihre Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung genauso – die Freundinnen ihrer Mutter waren alle mehr oder weniger gleich. Ihre Mutter stach noch am ehesten heraus, stand meistens im Mittelpunkt, aber auf ganz andere Weise, als es in Lenas Freundeskreis üblich war. Sie hatte es immer am schwersten, beklagte sich am meisten und suhlte sich im Mitleid ihrer Freundinnen und deren inhaltslosen, tröstenden Worten. Lena hätte am liebsten einen Blick in die Vergangenheit geworfen, um zu sehen, wie es vor Tryggvis Geburt gewesen war, als ihre Mutter noch nicht diese Opferrolle innehatte. Vielleicht hatten die Frauen damals Lena und ihren Freundinnen geähnelt, gekichert und ganz normal miteinander geredet, nicht in diesem depressiven, langsamen Tonfall, bei dem die Seufzer genauso viel Raum einnahmen wie die Wörter. Lena hatte nach Tryggvis Tod keine großen Veränderungen erwartet und recht behalten. Ihre Mutter spielte zwar nicht mehr die Rolle der standhaften, hingebungsvollen Mutter, deren behinderter Sohn immer an erster Stelle stand, sondern lächelte verzagt mit Tränen in den Augen, weil sie nicht über den Verlust hinwegkam. Beide Rollen hatten die Gemeinsamkeit, dass ihre Mutter das eine sagte, aber etwas anderes meinte.
Ist das nicht furchtbar schwierig, Fanndís? Nein, nein, man muss sich nur zusammennehmen, auch wenn man kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Aber worüber soll ich mich beklagen? In der dritten Welt gibt es Menschen, die ihre Kinder verlieren und noch nicht mal genug zu essen für den Rest der Familie haben.
Lena war auf einmal total genervt. Als ob ihre Mutter wegen Tryggvi irgendein Privatanrecht darauf hätte, unglücklich zu sein. Letztendlich hatten sie und ihr Vater ihn genauso liebgehabt, auch wenn sie nicht ständig versucht hatten, sich in den Mittelpunkt zu drängen. Lena redete mit ihren Freunden nie über Tryggvis Tod und fand, dass die Trauer und die Gefühle, die in ihr rumorten, ihre Privatsache waren. Andere Menschen konnten das gar nicht verstehen. Lena bezweifelte, dass ihr Vater sie verstand, obwohl es ihm auch furchtbar schlechtging, was er weder vor ihr noch vor Leuten, die ihn gut kannten, verbergen konnte. Es war, als hätte er einen Teil von sich ausgeschaltet, er war nie wirklich glücklich, versuchte aber, vor seiner Frau und seiner Tochter so zu tun als ob. Obwohl es schon vorher Probleme in der Familie gegeben hatte, konnte sich Lena nicht daran erinnern, ihn jemals so niedergeschlagen gesehen zu haben. Wenn sie gefragt würde, auf wen Tryggvis Tod den größten Einfluss hatte, dann würde sie sagen, auf ihren Vater.
»Ach, danke, meine Liebe, ich denke auch an dich.« Lenas Mutter legte auf. Sie starrte einen Moment aus dem Wohnzimmerfenster, bevor sie sich Lena auf dem Sofa zuwandte. »Hast du heute keine Uni?«
»Es ist Sonntag.« Lena schaute ihre Mutter nur an, längst an solche Dinge gewöhnt.
»Ach, natürlich, wo habe ich denn meinen Kopf?«, entgegnete ihre Mutter nervös. »Wo ist dein Vater?«
Lena zuckte die Achseln. »Rausgegangen. Hat nicht gesagt, wohin.«
»Was?« Ihre Mutter wirkte fast beleidigt. »Doch wohl nicht ins Büro?«
»Er wollte dich nicht beim Telefonieren stören, er ist bestimmt nicht weit. Vielleicht wäscht er den Wagen. Ist ja endlich besseres Wetter.« Wenn ihr Vater ein Hobby hatte, dann war es Autowaschen. Wahrscheinlich wäre er glücklicher, wenn er sich einen Job bei einer Autowaschanlage gesucht hätte, als Jura zu studieren und im Ministerium zu arbeiten. »Hast du noch mal was von dieser Anwältin gehört? Wegen Jakob und dem Brand?«
Das Gesicht ihrer Mutter nahm einen verärgerten Zug an, aber es gelang ihr, sich zu beherrschen und wieder so auszusehen, wie sie aussehen wollte: wie die schöne, gutherzige Frau, der das Leben übel mitgespielt hatte. »Nein, ich rechne auch nicht damit. Das ist völliger Unsinn. Ich verstehe nicht, warum man noch in den Wunden der Angehörigen herumstochern muss.«
Lena musste sich zurückhalten, ihre Mutter nicht anzuschnauzen. »Es geht ja wohl nicht an, aus Rücksicht auf die Gefühle irgendwelcher Leute den falschen
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