Feuernacht
sich Dóra und Matthias von ihr verabschiedeten. Dóra versicherte ihr, dass sie direkt zur Polizei gehen würde, und versprach, dass der Mann seine gerechte Strafe bekäme. Er konnte gar nichts abstreiten, da es einen DNA -Test gab, der seine Schuld im Fall von Lísa beweisen würde. Ragna müsste der Polizei zwar ein paar Fragen beantworten, aber am Ende würde ihr eine schwere Last vom Herz genommen. Bevor sie das Krankenzimmer verließen, informierte Dóra eine Krankenschwester darüber, was herausgekommen war, und bat sie, ein Auge auf Ragna zu haben, da sie sehr aufgewühlt sein musste.
Vom Landeskrankenhaus waren sie mit dem Laptop zum Polizeirevier gefahren, und Dóra hatte zum dritten Mal an diesem Tag die Facebook-Seite geöffnet. Leider war der Beamte, mit dem sie bereits Kontakt gehabt hatte, nicht da. Entweder hätte sie später noch mal wiederkommen müssen, oder sie musste mit seinem Assistenten vorliebnehmen. Dóra entschied sich für Letzteres, denn das Verbrechen musste so schnell wie möglich gemeldet werden. Die Tat dieses Unmenschen war schon viel zu lange unter den Teppich gekehrt worden. Dóra musste die ganze Geschichte noch mal von Anfang bis Ende erzählen, hatte allerdings den Eindruck, dass der Polizist schon etwas darüber wusste. Das ließ wenigstens erahnen, dass der Fall schon zur Sprache gekommen war, obwohl die Polizei Ragna noch keinen Besuch abgestattet hatte. Der Beamte versuchte krampfhaft, keine Informationen preiszugeben – vermutlich hatte er sich ausgiebig mit der Verhörtechnik befasst, bei der man seinen Gesprächspartner einfach reden ließ, damit er mehr erzählte, als er sich eigentlich vorgenommen hatte. Was in diesem Fall natürlich Quatsch war; Dóra hatte nicht vor, der Polizei irgendetwas zu verheimlichen. Erst, als sie bei ihrem letzten Besuch bei Ragna angelangt war und dem Beamten das Bild des Mannes zeigte, den Ragna als Täter identifiziert hatte, entgleisten seine Gesichtszüge. Unter dem Foto stand glücklicherweise ein Text:
Schöne Zeiten – Margeir, Friðleifur und Bjarki.
Bjarki sah nicht aus wie ein Perverser, sondern wie ein ganz normaler junger Mann, nur betrunken. Doch hinter dem Alltäglichen verbargen sich oft unglaubliche Abgründe.
Jetzt war es die Aufgabe der Polizei, herauszufinden, wer dieser Bjarki mit dem Allerweltsnamen war. Dóra hatte überprüft, ob er bei der Facebook-Gruppe registriert war, aber das war nicht der Fall. Man konnte allerdings sehen, wer das Foto ins Netz gestellt hatte. Eine Frau. Dóra überließ es der Polizei, sich mit ihr in Kontakt zu setzen, es würde sich nicht lohnen, sie anzurufen und dadurch die Ermittlungen durcheinanderzubringen, die ab sofort auf Hochtouren laufen würden.
Bragi trat in die Türöffnung. »Ich habe den Staatsanwalt erreicht, aber aus dem war nicht viel rauszubekommen. Gegen Ende der Ermittlung wurden der Polizei die Fotos anonym zugeschickt. Es war alles voller Fingerabdrücke, aber keine polizeilich registrierten. Keiner weiß, wer die Bilder geschickt hat, Jósteinn kann es nicht gewesen sein, da er zu der Zeit in Untersuchungshaft war, wie du ganz richtig vermutet hast. Seine Mutter wusste nichts darüber. Sie wirkte bei ihrer Zeugenaussage vor Gericht ziemlich abweisend. Er glaubt nicht, dass sie gezögert hätte, die Fotos selbst zu schicken, aber dann hätte sie das auch zugegeben. Bei ihrer Zeugenaussage muss den Leuten fast schlecht geworden sein. Jósteinn ist offenbar das Ergebnis einer gescheiterten Erziehung, falls man völlige Vernachlässigung überhaupt Erziehung nennen kann.«
»Wusste er was über Jósteinns Verhältnis zu seinem Anwalt und ob die beiden während des Prozesses irgendwie aneinandergeraten sind?«
»Das kann er nicht beurteilen. Jósteinn hat im Gerichtssaal keine Reaktion gezeigt, immer nur vor sich hin gestarrt und so gut wie nichts gesagt. Ihm ist allerdings aufgefallen, dass sich Jósteinn und sein Anwalt überhaupt nicht ausgetauscht haben.«
Dóra blieb nachdenklich sitzen, als Bragi gegangen war, um Kaffee zu kaufen. Er konnte ohne Koffein nicht mehr weiterarbeiten. Vielleicht tat Jósteinn Jakob wirklich nur einen Gefallen. Trotzdem hatte Dóra nach wie vor starke Zweifel an Jósteinns Rolle bei der ganzen Geschichte. Sie stand auf und öffnete das Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Draußen war nicht viel Verkehr, aber es hatte einen Auffahrunfall gegeben: Zwei Autos versperrten die Fahrbahn, und die Fahrer beugten sich über die
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