Feuernacht
erfüllten Dóra plötzlich mit Melancholie, was derzeit häufiger vorkam. Wenn man immer geglaubt hatte, man könnte den Pfeilern der Gesellschaft vertrauen, war es schwer, das Gegenteil realisieren zu müssen. Zu allem Überfluss war das Land nicht nur ins Schlingern geraten, sondern stürzte geradewegs in den Abgrund. Das düstere Gebäude des Nationaltheaters verstärkte diesen Eindruck noch. »Warum gehen wir eigentlich nie ins Theater?«
»Was?« Matthias schaute sie verwundert an, während er den Motor ausschaltete. »Ich wusste nicht, dass du Lust dazu hast. Können wir gerne mal machen.«
Dóra bedauerte es bereits, dass ihr das rausgerutscht war. Sie wollte gar nicht ins Theater, genauso wenig, wie sie isländisches Schmalzgebäck mochte, das sich neuerdings in ihren Einkaufskorb schmuggelte. Es landete nur dort, weil sie genug von der Krise hatte und sich gezwungen fühlte, etwas Isländisches zu kaufen. »Ich kann ja mal checken, was gerade gespielt wird.« Es gab diverse Dinge, was man Matthias nicht erklären konnte – am Morgen hatte er beispielsweise versucht, seiner Schwiegermutter genau zehn Tropfen Kaffee einzuschenken, wie man auf Isländisch eben so dahersagte. Er verstand die meisten Wörter, aber wenn sie aneinandergereiht waren, bekamen sie manchmal eine ganz andere Bedeutung. Auch der Alltag barg viele Fallen, und manches, was Dóra selbstverständlich fand, war für ihn völlig absurd. Wenn es geschneit hatte, kratzte sie auf der Frontscheibe in Augenhöhe nur einen Streifen frei, während Matthias gewissenhaft sämtliche Fenster, das Dach, die Motorhaube, die Scheinwerfer, das Heck und sogar die Reifen von Schnee und Eis befreite, bevor er es auch nur wagte, rückwärts aus der Einfahrt zu fahren. Als er noch in der Bank gearbeitet hatte und sie gemeinsam zur Arbeit gefahren waren, hatte er sie damit aufgezogen, sie könnte doch einfach nur zwei kleine Löcher für die Augen freimachen.
Der Eingangsbereich des Ministeriums war menschenleer, aber in der Büroetage herrschte rege Betriebsamkeit. Mitarbeiter eilten geschäftig durch den langen Gang, tauchten schwerbepackt mit Unterlagen in Türen auf und verschwanden durch andere. Der Empfangstresen war leer.
»Sollen wir Einvarður anrufen und ihm sagen, dass wir hier auf ihn warten?«, fragte Matthias und schaute sich suchend nach einer Sekretärin um, aber niemand beachtete sie.
»Nein, nein, wir gehen einfach rein. Ich weiß ja, wo sein Büro ist.« Ein weiteres Beispiel für ihre unterschiedlichen Lebenseinstellungen. Matthias sagte nichts, aber sein Gesicht gab zu erkennen, dass man sich in einem Regierungsministerium an Formalitäten halten sollte, selbst wenn man sein Ziel dann nicht erreichte. Dóra lächelte ihm zu. »Komm schon, sonst stehen wir hier, bis wir heute Abend mit dem Müll rausgefegt werden.« Er klappte den Mund auf, um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben und folgte ihr.
Die Tür zu Einvarðurs Büro stand offen. Man hörte, wie er mit einer Frau über einen Bericht redete, mit dem er offenbar nicht zufrieden war. Dóra spähte in den Raum, aber die beiden bemerkten sie nicht. Einvarður war verärgert, weil die Frau die Aufgabe nicht so erledigt hatte wie irgendeine Begga, und Dóra hatte Mitleid mir ihr, weil sie diesem Vergleich nicht standhielt. Wenn diese Begga so gut war, warum übertrug Einvarður ihr dann nicht die Aufgabe? Dóra überlegte, wie er mit Bella zurechtkommen würde, und malte sich aus, dass die Frau, die er gerade zurechtwies, kündigen und er aus Versehen Bella einstellen würde. Anstatt sich zu räuspern oder auf andere Weise auf sich aufmerksam zu machen, warteten sie einfach. Geduldig lauschten sie dem Gespräch über Seitenränder, Schriften und Farbauswahl bei einem Säulendiagramm, bis die Frau mit geröteten Wangen an ihnen vorbeieilte, ohne sie zu registrieren, und sich unter die anderen Mitarbeiter mischte, die durch den Flur hetzten. Dóra klopfte leise an die Tür.
»Hallo Einvarður, ich sehe, dass du viel zu tun hast, aber könnten wir kurz mit dir reden?«
Einvarður blickte von dem Bericht auf, einen Moment lang völlig verschreckt, fasste sich dann aber schnell und wirkte wieder wie jemand, der über endlose Zeit verfügte und noch nie etwas von einem Abgabetermin gehört hatte. Er stand auf und bat sie, sich zu setzen. Als Matthias die Tür hinter ihnen zumachte, wirkte er verwundert, versuchte aber, es zu überspielen. »Entschuldigt bitte die Hektik, aber
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