Feuernacht
kapiert er, dass ich draußen bin. Das Kind sollte das gar nicht sehen.«
Natürlich – die Schrift auf der Fensterscheibe war spiegelverkehrt. Margeir hatte von außen geschrieben, und der Junge hatte es von innen gesehen. Demnach hatte Tryggvi auch NNI 80 geschrieben, da seine Zeichnungen immer spiegelverkehrt waren. Dóra atmete tief durch. Aber woher wusste Jósteinn davon? Er hatte Tryggvis Zeichnungen doch nie gesehen. Und was bezweckte er damit? Vielleicht hatte Einvarður die Bilder eingescannt und in seinem Laptop gespeichert, was allerdings seltsam wäre. »Weißt du was über den Unfall auf dem Vesturlandsvegur, bei dem eine junge Frau gestorben und der Fahrer abgehauen ist? Kann es sein, dass das auch dieser Bjarki war?«
Margeir schüttelte energisch den Kopf. »Davon weiß ich nichts. Wäre ja wohl auch ein bisschen viel des Guten.«
Wahre Worte. Während sie auf die Polizei warteten, wurde Dóra den Gedanken nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. War der Engel, den Jakob angeblich im Heim gesehen hatte, nur eine Phantasie? Und warum verwickelte Jósteinn die arme Frau mit dem kleinen Jungen in sein Spiel? Die Zweifel verdrängten ihre Genugtuung darüber, dass Jakob jetzt bestimmt freikommen würde. Eigentlich sollte sie sich freuen – es war nur noch eine Frage von Tagen, wann Jakob nach Hause konnte, außerdem hatte Matthias ihr bei einer Pizza verkündet, dass er den Job angenommen hatte. Alles schien perfekt zu laufen. Aber trotzdem. Dóra versuchte, die miesen Gedanken abzuschütteln, während sie die näher kommenden Lichter des Streifenwagens beobachtete. Das war ein gutes Ende, man bekam eben nicht immer Antworten auf alle Fragen. Vielleicht konnte dieser verfluchte Jósteinn morgen noch ein paar Dinge aufklären. Dóra wollte, dass nicht der geringste Zweifel an Jakobs Unschuld bestand.
Aber sie hatte eine Vermutung, wie diese beiden völlig unterschiedlichen Fälle zusammenhingen, die nur eine Gemeinsamkeit hatten: dass unschuldige Menschen gestorben waren. Als Dóra hinter dem Streifenwagen herfuhr, bestätigte ein Anruf von Berglind ihren Verdacht.
»Ich weiß jetzt, wo ich diese Buchstaben und Zahlen schon mal gesehen habe.«
36 . KAPITEL
SAMSTAG ,
23 . JANUAR 2010
Jósteinn hatte seinen Gästen nicht einmal in die Augen oder ins Gesicht geschaut, obwohl Dóra und Matthias seit fast einer Stunde bei ihm saßen. Es war unmöglich zu sagen, was er darüber dachte, dass sein Computermissbrauch aufgeflogen war – er zeigte keine Reaktion und redete genauso monoton wie sonst. Sie saßen wie üblich in dem gemütlichen, aber schlichten Wohnzimmer im Sogn. Obwohl es ziemlich geräumig war, war die Nähe zu diesem unangenehmen Menschen übermächtig. Von dem wenigen, was er sagte, war das meiste ziemlich abartig, und die perversen Beschreibungen, auf die er immer wieder zurückkam, ließen sich unmöglich überhören. Jedes Mal, wenn Jósteinn wieder etwas Derartiges fallen ließ, zuckten sie zusammen. Dóra war davon überzeugt, dass er sich nur so benahm, weil er wusste, dass er sie nie wiedersehen würde – und bis auf die Insassen und Mitarbeiter im Sogn wohl in nächster Zeit auch sonst niemanden.
»Wir sind nicht hier, um über deine Gelüste zu reden, Jósteinn.« Dóra befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Darüber sprichst du lieber mit einem Arzt. Wir wollen das nicht hören und sind auch nicht in der Lage, mit dir daran zu arbeiten. Wenn du nicht beim Thema bleiben kannst, dann müssen wir uns diese Infos eben bei der Polizei besorgen.«
»In Ordnung.« Jósteinn strich sich mit der Hand durch das dünne, schmutzige, schwarze Haar. Es war unklar, ob er es »in Ordnung« fand, dass sie zur Polizei gingen oder dass er diese ekelhaften Andeutungen einstellte.
»Wiederhol das noch mal, damit ich auch alles richtig notiere«, sagte Dóra. Jósteinn hatte sich geweigert, dass das Gespräch aufgenommen wurde, und Dóra machte sich Notizen. »Fang noch mal von vorne an und wiederhol das, was Ari dir deiner Meinung nach angetan hat.«
Jósteinn starrte aus dem Fenster, und Dóras und Matthias’ Blicke wanderten automatisch auch dorthin. Es gab nichts zu sehen außer Schnee, das verlassene Gewächshaus und nackte Zweige, die sich im Wind bewegten. »Er hat mich betrogen. Ist vielleicht nicht verwunderlich, aber er hat mich trotzdem betrogen. Er ist der Einzige, der in Frage kommt. Er war der Einzige, der außer mir von den Fotos wusste.« Jósteinn lachte kurz und
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