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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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gewünscht.«
    »Ich habe gehört, dass sich die Bewohner nicht wohl gefühlt haben, hast du davon etwas bemerkt?«
    »Oh Gott, der Kaffee!« Fanndís schlug sich die Hand auf die Brust und sprang auf. »Bin gleich wieder da.« Sie eilte aus dem Raum.
    Matthias schaute Dóra verwundert an.
    Aus der Küche waren Geräusche zu hören, ein Schrank wurde geschlossen, Porzellan schepperte. Dann drangen Stimmen zu ihnen, aber sie konnten nicht ausmachen, ob sie aus dem Radio kamen oder ob Fanndís sich mit jemandem unterhielt, vielleicht am Telefon. Dóra lauschte angestrengt, konnte aber kein Wort verstehen. Da fiel ihr Blick auf eine gerahmte Zeichnung, die weiter hinten in einem Bücherregal neben dem Sofa stand. Das Motiv machte sie neugierig. Sie musste sich bücken, um die Zeichnung richtig sehen zu können, und nahm sie schließlich aus dem Regal. Es handelte sich definitiv nicht um das Bild eines bekannten Künstlers – die verwendeten zumindest keine Wachsmalstifte –, sondern musste von einem Kind stammen. Man brauchte nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu erkennen, dass es von Tryggvi war. In einer Ecke der Zeichnung stand mit großen, ungelenken Buchstaben 08 INN oder etwas Ähnliches. Das Bild war zu sorgfältig gezeichnet und das Motiv zu ungewöhnlich, als dass es von einem Kleinkind stammen konnte. Im Vordergrund befand sich eine Figur, wahrscheinlich ein Mensch, ohne Augen und Nase, nur mit einem weit aufgerissenen Mund, der in einem stummen Schrei erstarrt war. Dahinter konnte man ein Haus erkennen, das in groben Zügen der Front des Wohnheims glich. Obwohl die Hausfront sehr ähnlich war, stimmte etwas nicht, aber Dóra konnte nicht feststellen, was. Eine zweite Figur stand etwas abseits. Im Gegensatz zu der anderen, die liegend gezeichnet war, stand sie aufrecht und hatte sowohl Augen als auch einen Mund, der geschlossen war. Die Figur reckte die Arme in die Luft, und zwischen den Armen befand sich ein fast perfekt gezeichneter Kreis, der durch Linien, die in der Mitte aufeinander zuliefen, in drei Felder unterteilt war. Die Figur hatte etwas Abstoßendes, undeutliche Gesichtszüge und einen boshaften, feuerroten Mund. Wenn Tryggvi die Welt und die Menschen so sah, konnte man sich gut vorstellen, dass er sich unwohl fühlte und vor allem Angst hatte.
    Das Bild war zuerst mit Bleistift vorgezeichnet und die größeren Flächen dann farbig ausgemalt worden. Wegen des gelblichen Papiers wirkte es älter, als es war. Dóra reichte es an Matthias weiter, und er fand auch, dass das Haus dem Wohnheim glich. Er meinte sogar, in einem der Fenster ein Feuer lodern zu sehen. Dóra studierte das Bild genauer, war aber nicht ganz seiner Meinung, obwohl etwas Rotgelbes im Fenster zu erkennen war. Als Fanndís mit einem Tablett mit Kaffeekanne, Tassen, Zuckerdose und Milchkännchen auftauchte, stellte Dóra das Bild zurück an seinen Platz. »Ich habe mir gerade die Zeichnung hier angeschaut, ist die von Tryggvi?«
    Fanndís stellte das Tablett auf den Couchtisch und ging zu Dóra. »Darf ich mal sehen?« Sie nahm den Rahmen und runzelte die Stirn. »Wo war das? Das hatte ich ganz vergessen.«
    Dóra zeigte auf das Regal. »Hat Tryggvi das gemalt?«, insistierte sie.
    »Ja.« Fanndís starrte gedankenverloren das Bild an. »Er hatte ein außergewöhnliches Zeichentalent. Auf dem Bild sieht man das nicht, weil es bunt ist, aber er hat alle seine Bilder in einem Zug gezeichnet, ohne den Stift vom Blatt zu heben. Er hat die Zeichnung genau vor sich gesehen, bevor er sie zu Papier gebracht hat. Es gab nie ein Zögern oder eine fahrige Bewegung, wenn der Stift das Papier einmal berührt hatte.« Sie stellte das Bild wieder an seinen Platz, so weit hinter die Bücher, dass nur noch eine Ecke des Rahmens zu sehen war. »Ich hatte dieses Bild ganz vergessen. Unsere Tochter hat es kurz nach Tryggvis Auszug rahmen lassen und ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt. Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet dieses Bild ausgesucht hat, es gibt einige, die viel besser sind. Ich mag es nicht besonders, deshalb steht es ein bisschen versteckt.«
    »Soll das das Heim sein?«, fragte Dóra. »Das Gebäude kommt mir bekannt vor, aber irgendwas stimmt nicht.«
    »Ach so, das hast du natürlich nicht verstanden.« Fanndís lächelte Dóra so an, als sei sie begriffsstutzig. »Das Gebäude ist spiegelverkehrt. Tryggvi hat alles spiegelverkehrt gemalt, das war ein Merkmal seines Autismus. Man hat versucht herauszufinden, woran das liegt.

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